026 Wahltag in Japan

Was letztes Mal (025) geschah. „Solange die Blackouts notwendig sind, ist es gut, dass es die gibt. Und wenn Sie Alternativen zu den Blackouts gelernt haben, dann werden sie nicht mehr nötig sein,“ sprach SW im Mai. Die Blackouts sind derzeit notwendig bei Sicherheitskontrollen am Flughafen und anderen Alltagssituationen, die ich ohne Dissoziation nicht schaffen würde. Ich vote für Blackouts und gegen Traumaschaden-Sichtbarwerdung. Die macht Todesangst für mein System. Ich vote? Ich habe eine Wahl? Mich trifft die Ungläubigkeit mit der Wucht einer Abrissbirne: Das muss in den Feldversuch. Das Experiment lautet „Termin mit ANFASSEN und ich bleibe da.“ Blackout-frei. Auf ins Abenteuer!


Wahltag war für mich nicht der 24. September und auch nicht der 15. Oktober. Wahltag war für mich der 24. Oktober. Erster Shiatsu-Termin meines Lebens. Ich weiß nicht mal, was das ist, aber es ist japanisch und somit sympathisch. Ich wähle heute keine Partei. Es treten an:

  • die bisherige Koalition aus Superchecker-PADL, der Erstbegegnungen macht (für den Begrüßungs- und „Interview“-Teil), der abklatscht an … ja wen eigentlich? Wer von ∑ich ist da, wenn das Blackout kommt? Interessante philosophische Frage, aber das kann ∑ich am Wahltag nicht offenlegen mangels Wissen. … der abklatscht an Unbekannt (für den Anfass-Teil) ODER
  • eine traumabeschädigte Version von ∑mir. Und zwar ein und dieselbe für den ganzen Termin, somit Blackout-frei.

Es ist eine Wahl zwischen (meinem weltlichen Namen) und Sonrisa. Vereinfacht gesagt – denn es sind eigentlich doch Parteien aus meinen Anteilen – Team (weltlicher Name) vs. Team Sonrisa.

Eigentlich geht das gar nicht: anfassen und dableiben. Eigentlich muss ich da leider aus mir raus springen… Das Experiment ist so viel mehr als das: Es wäre das allererste Mal in meinem Leben, dass eine nicht-schweigeverpflichtete Person (Therapeutin oder Ärztin) etwas anderes als das Superchecker-Team sieht. Ich müsstewollte mich Trauma-outen. Ich müsstewollte Symptome berichten, die verstörend (013) sein werdenkönnten. Ich müsstewollte um Extrawürste bitten. Ich müsstewollte Schwäche zeigen, die mich angreifbar macht – ein Beziehungstraumaschaden und somit gefühlt vernichtend.

Insgesamt fühlt es sich an, als müsste ich nicht nur Schutzschilder ablegen, sondern mich häuten, wortwörtlich, vor dem Eintreten. Vor einer völlig Fremden. Ich hab Schiss vor dem Wahltag. Will ich das wirklich?

Trotzdem vote ich heute für Sonrisa.


Ich beobachte mich selbst, wie die Tür aufgeht und mein Superchecker-PADL an der Schwelle zurückbleibt. Die traumabeschädigte Version von mir benimmt sich ganz anders als das gewohnte „Ich“.

Die Shiatsu-Frau heißt P., bietet mir das Du an, Team Sonrisa streitet darüber, ob sich das gut anfühlt oder grenzüberschreitend, sie führt mich durch die Räumlichkeiten – Toilette, Küche, Warteraum, Fragezeichen – während Team Sonrisa schon nach dem ersten Umdrehen völlig die Orientierung verloren hat. Wie sieht die Tür ins Freie aus? Fluchtwegverwirrung (025), nein bitte nicht jetzt schon. Es fühlt sich an, als hätte ich mich beim Fernsehen im Kanal verzappt – eine verwirrende Version von Frauentausch. Die falsche Version macht den falschen Job. Unbeholfen. Fremd. Nicht ich.

Interviewsituation. Körperberichterstattung – na das nenn ich mal ein passendes Thema gleich nach dem Stapellauf in Echtwelt-Gewässer von Sonrisa. Ihr wächst das Experiment in Minute drei über den Kopf. Ich oute die „ausgedehnte Traumahistorie“, die „komplexe Traumafolgestörung“. Sie fragt nach Psychotherapie. Ich frag mich in dem Moment, ob’s für mich jemals ein Leben ohne Psychotherapie geben wird? Sie möchte sehen, wo ich mein Notfallmedikament aufbewahre. Das habe ich noch nie im Leben einer Person gezeigt. Wir vereinbaren, dass sie – wenn etwas „komisch“ ist – die Dose mit den Tabletten vor mich hinlegt und den Raum verlässt. Ich habe mich noch nie mit jemandem außerhalb eines Krankenhauses gemeinsam auf dissoziativen Stupor vorbereitet. Ich muss mich verzappt haben –  Therapiesituation-Version entert den Echtwelt-Kanal? Bin das ich?

Manche meiner Sätze hätten mich erschreckt. „Ich weiß nicht, was der Körper alles hatte. Ich bin gefühlt irgendwann zwischen 1997 und 1999 vom Himmel gefallen.“ Ich hätte einen Blick Nase-zu-Boden-Augen-auf-mich erwartet. Der kam nicht. P. sieht immer noch direkt in mein Gesicht. Sie plappert auch keine Übersprungssätze. Sie wirkt nicht als hätte sie in den letzten Minuten gedanklich eine Linie zwischen uns gezogen oder imaginäre Barrieren errichtet, sie wirkt immer noch von Mensch zu Mensch, nicht von Okay zu nicht-Okay.


Anfassen. Ich kann das fühlen, was P. macht – ich muss mich ganz extrem konzentrieren, damit das geht, aber es geht. Das ist unglaubglich.

Ein Mensch liegt da und ein anderer Mensch macht Shiatsu-Dings mit ihm. Keine große Sache für Menschen. Ich hingegen bin überwältigt. Das Experiment funktioniert.
Ich habe mich geoutet außerhalb einer Therapiesituation – und bin noch da.
Ich habe mich anfassen lassen – und bin noch da.
Ich habe mir einen Ast ab konzentriert, um zu fühlen – FÜHLEN!!! – was mit mir passiert – und bin noch da.
Ich liege am Rücken mit einer Person im Raum – und bin noch da.
Allein bis hierher ist das schon outerspace. An einer Stelle dachte ich sogar: „Das ist angenehm,“ (nicht tolerieren, angenehm!) und rechnete als nächstes damit, dass ein lila Waldelf purzelbaumschlagend bei der Tür hereinpoltern wird. Völlig fremde Welt.

Und hier kommt das Highlight. Ich platze vor Stolz: Ich habe stopp gesagt – mein Therapieziel (016) seit vielen Monaten, das ich selten schaffe, weil das für mich eine übermenschliche Vertrauensleistung ist.

Weil jedes Stopp ein Problem outet, weil jedes mitgeteilte Problem dem anderen Macht über mich gibt, weil Macht über mich lebensbedrohlich ist.

Zweimal!
1. Ich mag die Augen nicht zumachen, weil ich sonst binnen 30 sec stocksteif wäre, wenn ich P.s Arme nicht sehen kann und mein Körper dann Schläge überallhin antizipiert.
2. Rückenlage und ein Oberkörper über mir gehen gar nicht gut. Ich fühle die Spannung steigen, ich fühle das Bereitmachen für eine Staffelübergabe (010) – und sage Stopp. Andere Menschen sind stolz auf ihren ratz-fatz-Studiumsabschluss – ich nicht auf meinen, denn er hat mir keine Anstrengung und kaum Mühe gekostet. Ich platze vor Stolz für zweimal Stopp sagen beim Shiatsu, weil die mich mehrere Tage mentale Vorbereitung, endloses Durchimaginieren des Unbekannten, außerirdische Konzentration vor Ort und fett viel Mut gekostet haben.
Ich äußere die Freude über das Nichts sogar moderat. Es wäre unangemessen, in Freundentränen auszubrechen. Jemand in Team Sonrisa macht das gerade im Hintergrund. Was für ein Wahltag. Ab zur Wahlparty.

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„Es ist gut, dass Du bist, wie Du bist, danke für das Abenteuer,“ schreibe ich nachher an P. Ich hatte mit ziemlich viel Tumult gerechnet nachher, und alles was ich hatte, war eine Magenreaktion als hätte ich meine Nahrungsmittelunverträglichkeit ausgelöst. Mein Nervenproblem im Nacken (018) ist deutlich besser nach dem Termin – aber das ist ja nur ein Nebenschauplatz. Ich hatte ins PS noch einen Link zu einem Text angehängt (Körperberichterstattung für Viele-Menschen, nicht von mir). P. schrieb eine Antwort, bei der ich lächeln musste. Nett. 🙂

Mehrere Tage nach dem Termin habe ich innerliche Ruhe. Ich muss mich regelrecht zwingen, meine Erfahrung aufzuschreiben, um sie außerhalb meines Emmenthaler-Gehirns zu konservieren. Ich brauche kein Aufschreiben zur inneren Koordination und Selbstberuhigung. Das hätte ich gebraucht, wenn ich für Team (weltlicher Name) gevotet hätte. Ich habe für Team Sonrisa gevotet und bereue es nicht.


Quod erat demonstrandum. Ich habe eine Wahl. Identifizierte, vorhersehbare Blackouts kann ich vermeiden. Ich habe sie in der Hand. Ich trete durch ein Tor in eine neue Welt. Nein, SW ist nicht übergeschnappt (025), sie hat sowas von recht. Mann, ist die schlau.

Du hast bis hierher gelesen? Ich freue mich, wenn Du mir einen Kommentar da lässt.

Wie waren Deine outing-Erfahrungen „normalen Menschen“ (nicht Therapeuten oder Ärzten) gegenüber? Wie viel erzählen fühlt sich gut an? Wann ist es zu viel an gläsernem Gefühl?


PS: Was mache ich mit all diesen Sätzen? Ich kann sagen, dass ich die Augen nicht schließen möchte, weil mein Körper sonst Schläge überall hin antizipiert, wenn ich P.s Arme nicht sehen kann. Bis hierher sage ich diese auch für mich neuen Infos mit einer Selbstverständlichkeit, als wären sie schon immer da gewesen. Aber weiter kann ich die Sätze nicht tracken: Mein Körper antizipiert Schläge, weil… ist eine Sackgesse. Diese Sätze gehören nicht zur Shiatsu-Frau, die menschlich ist. Die gehören zur Therapeutin, die traumageschult ist. Ich freue mich über neue Information, aber ich fürchte mich auch davor.

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7 Kommentare Gib deinen ab

  1. sophie0816 sagt:

    ja wow! ich bin mit beeindruckt, auf ganzer linie. und ich finde, du kannst zurecht stolz sein, das war wirklich mega mutig!
    danke fürs teilen!

    Gefällt 1 Person

  2. Birke-Zeitenmosaik sagt:

    Jaaa.. Shiatsu ist einfach wirklich wirklich gut… Berührung am angezogenen Körper… von wem die Empfehlung wohl kommt? 🙂

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  3. Birke-Zeitenmosaik sagt:

    Und Cranio-Behandlung kann ich auch empfehlen 🙂 Auch Berührung am angezogenen Körper…

    Gefällt 1 Person

    1. Dafür hatte ich schon einen Termin. Den hab ich wieder abgesagt, weil es mit P. echt gut geht und zweimal die Woche pack ich sowas nicht. 🙂

      Gefällt 2 Personen

  4. Fynn sagt:

    Ich persönlich kenne solche sensorischen Probleme nicht – ich habe vielmehr Angst vor allem, was mir Schmerzen bereiten könnte : spritzen, l auf mich zufahrende autos, Tiere,… aber ich gratuliere dir, dass du diesn Schritt für dich gehen konntest! Was würdest du mir empfehlen?
    Ich erzähle guten Freunden von meiner DIS denn ich habe einen extremen Rechtfertigungsdrang. Ich wünschte aber, ich hätte jemanden in meinem Leben, der so ist und denkt wie ich… einen Austausch…

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  5. Wintersonnenzauber sagt:

    Hey 😀
    Erstmal SUPER, dass das (vor etwas mehr als 2 Jahren ^^) so gut geklappt hat – seid ihr da eigentlich noch immer dran oder (was ich eher fragen wollte) wie lange ward ihr bei P. für dieses Shiatsu?

    Hier ist es – glaub ich – zum Großteil so, dass ich kopfmäßig bei Berührungen aller Art zwar da bin, aber hinterher kann ich vieles nicht mehr benennen, was gemacht wurde, oder habe keinen richtigen Zugang zu den Empfindungen zu Berührungen, zu meinen Gefühlen, zu den Gedanken währenddessen … ich weiß auch nicht, ob ich währenddessen nur noch mit dem Kopf da bin und der Rest des Körpers (irgendwer im Innen sagt gerade „Körperrest“ – was irgendwie a) befremdlich klingt, aber b) in gewisser Art und Weise vielleicht sogar aufschlussreich sein könnte) von jemand anderem übernommen wird, so dass aus diesem Grund keine Empfindungen, Gefühle und Gedanken von mir gespeichert werden können … oder ob ich dann eigentlich nur noch aus den Augen raus schaue (aber ich glaub, das würde ich bemerken und – da es auch in partnerschaftlichen Beziehungen so ist – auch direkt benennen, also zumindest in dem aktuellen Kontext …)

    Zu deiner Frage:
    Ich oute mich da im „normalen“ Kontext eigentlich eher ungerne – gerade auch weil es viele nicht so wirklich verstehen (Familie, alte Freunde) – einfacher ist es da im „psychisch krank“-Kontext, also in der Tagesklinik oder Reha für psychisch Kranke (wenn ich mit der jeweiligen Person soweit warm geworden bin, dass ich mich traue, wenn es notwendig ist [Stichwort: Rechtfertigungszwang/-drang wie bei FYNN] oder wenn das Thema einfach irgendwie gerade in diese Richtung geht). Auch den Freunden, die ich in der Reha kennen gelernt habe, habe ich es relativ bald gesagt, was auch gut war, weil es zu einem (für meine Freunde durch das Wissen) offensichtlichen Wechsel gekommen ist und sie mich dadurch vor jemandem schützen konnten, wo der Körper-WG-Mitbewohner, der/die in dem Moment vorne war, es nicht konnte.

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