099 verloren und gefunden

„In der Wüste wachsen die Füße! Wir haben dann alle zu kleine Schuhe!“ sagt der Guide, der eine Kreuzung aus Wüstencowboy und schrägem Vogel zu sein scheint, zu den Kindern. Die blicken verwundert zu ihren Füßen, bis ein Bub fragt: „Wie meinst du das? Wie soll das gehen, dass meine Füße wachsen?“ – „Ich wette, dass du dieses Rätsel bis heute Abend ganz alleine lösen kannst,“ lautet die augenzwinkernde Antwort.

Reiseimpression #1. Wenn man Dinge beim Universum bestellt, werden sie selten promt geliefert. Aber meiner Erfahrung nach werden sie geliefert! Erinnerst Du Dich an den Wortwechsel mit meiner Freundin? („Ich bräuchte gerade jemanden, der mir die Welt erklärt, denn ich verstehe sie gerade nicht. Ich bräuchte jemanden, der mir das Leben erklärt. Ich bräuchte jemanden, der mir den Sinn erklärt.“ 087)

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Nach einer herrlichen Wanderung sitzen wir zu sechst – Guide Wilhelm, ein Pärchen und meine Familie – vor dem Bush TV (Lagerfeuer). Im Umkreis von 100 km befinden sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine weiteren Personen abgesehen von der Köchin. Sowie die Sonne ihre Schicht beendet, ist es ziemlich kalt im afrikanischen Winter. Soeben habe ich meinem Kind etwas beigebracht, das ich für lebenstüchtige Menschen für außerordentlich wichtig halte – als Enkelin eines Offiziers der Deutschen Kriegsmarine: wie man sich Alpha-Centaurus sucht… über Beta-Centaurus das Kreuz des Südens findet… und damit die Himmelsrichtungen bestimmt. Wilhelm fragt, was wir hier draußen eigentlich wollen – eine freche und spannende Frage, finde ich. Jeder der fünf Europäer hat seine eigene Antwort darauf. „Stargazing and minimal light pollution,“ ist die Antwort meines Kindes. Ich blicke auf den Boden und muss lächeln.

Das Gespräch dreht in Richtung Sinn des Lebens – auch hier macht jeder seinen Beitrag – alles interessante Gedanken. Wilhelm sagt abschließend: „Am Ende geht es wohl darum zu beten, dass der morgige Tag gut wird. Und wenn er gut wird, geht es darum, das zu genießen und um den nächsten guten Tag zu beten.“ Wow. So viel Wahrheit und Simplicity in zwei Sätzen.

Wilhelms Vater ist Flüchtling aus Angola. Seine Mutter ist verstorben. Wilhelm ist ein sehr weiser Mensch, mit dem ich noch gern weitere Abende vor dem Bush TV verbracht hätte.


Reiseimpression #2. „Mein linker Schuh ist weg,“ sage ich mit Blick in den Beifahrerfußraum. Oh nein. „Wo soll der denn hin sein?“ fragt mein Mann. „Keine Ahnung. Bei einem Fotostopp raus gefallen?“ – „Wir sehen uns das hier schnell an und dann suchen wir deinen Schuh,“ legt mein Mann den Plan fest. Kann ich nicht erst den Schuh…? denkt jemand in ∑ich. Dann müssen wir die Strecke aber noch zweimal fahren; er hat schon recht, so ist es effizienter, denke ich zurück. Ich habe noch ein Paar Flipflops dabei. In denen schlurfe ich durch den heißen Sand, um zu einem bestimmten sehenswerten Punkt zu kommen, den man mit dem Auto nicht erreichen kann.

Auf der Rückfahrt suchen drei Paar Augen einen blauen Schuh neben der Sandpiste. Unser Pickup driftet und pflügt durch den Wüstensand. Wir finden den bestimmt – hier wächst ja kaum was, ein Schuh fällt echt auf, denke ich. Eine Stunde später sind wir die Sandpiste dreimal abgefahren, haben an der Taleinfahrt den Posten gefragt, den gesamten dazugehörigen Parkplatz inklusive Mülleimern durchsucht, einen Guide nach dem Schuh gefragt, die Bilder auf der Kamera durchsucht und den exakten Punkt des Fotostopps damit ermittelt. Magic – wir haben den Platz gefunden und dort zu dritt zu Fuß das Gelände abgesucht: Fehlanzeige. Wir weiten unseren Radius aus und fahren nun dreimal die Teerstraße ab von der Düne, bei der ich den Schuh noch getragen hatte, bis zur Taleinfahrt – denn auch beim Pinkelstop an dieser Straße hätte der Schuh hinausfallen können. Negativ. Wir geben die Suche auf.

Nächster Programmpunkt ist ein mehrtägiger Ritt durch die Wüste – das wird super: in Reithose und Flipflops! ätzt jemand in meinem Kopf. – Das geht schon irgendwie, abgesehen davon haben wir noch eine Chance – eventuell hat den Schuh jemand bei der Parkaufsicht abgegeben. Schwarzmalen verboten, bevor der Umstand eingetreten ist! antworte ich in Gedanken. – Wie kann man so blöd sein und einen Schuh verlieren?! Nach den Pferden kommt eine Dreitageswanderung. In Flipflops! Kennst du irgendjemanden, der mitten in der Wüste einen Schuh verloren hat? Maaaann! läuft die Schallplatte weiter. „Ich kann den Trail möglicherweise nicht in Flipflops gehen. Ich muss dann im Camp bleiben und auf euch warten, oder?“ frage ich meinen Mann. „Auf keinen Fall! Diese Wanderung ist das Highlight des ganzen Urlaubs! Man reist dafür um die ganze Welt! Besser wäre es gewesen, ihn gestern zu verlieren: Da waren wir noch wo gewesen, wo man Schuhe kaufen kann. Naja, aber es wird auch so irgendwie gehen.“ Mann! So blöd! „Würdest du mitten in der Wüste anhalten, wenn du einen Schuh siehst? Würdest du ihn mitnehmen? Würdest du ihn bis zur Parkaufsicht fahren und dort abgeben?“ will ich von meinem Mann wissen. „Ja, ja und ja – aber dann würde ich vergessen und an der Parkaufsicht vorbeifahren,“ lacht mein Mann, ein hypothetischer Dieb aus Gedankenlosigkeit, über seine realistische Prognose.

Wir erreichen die Parkaufsicht. Mein Mann erkundigt sich bei der Uniformierten nach unserem Anfahrtsweg zu einem Canyon. Als die beiden fertig sind, frage ich: „I know that sounds weird, but did someone find a single shoe? A blue one?“ Mit hochgezogenen Brauen blickt mir die Frau ins Gesicht. Sie zeigt mit dem Finger auf den Boden neben sich – meine Augen folgen – und was liegt da? Über 60 km von der Fundstelle entfernt bekomme ich meinen Schuh zurück. „Halleluja!“ rufe ich aus. „Oh my god, this is awesome!“ Ich erkläre der Parkaufsicht, dass mich der gefundene Schuh vor einem Mehrtagesritt und und einer tagelangen Wüstenwanderung in Flipflops bewahrt hat. Ich nehme den Schuh entgegen und jemand aus ∑ich macht einen kleinen Freudentanz. Die Parkaufseherin freut sich sichtlich mit. „I am so lucky! I am so happy! What’s your name?“ – „Trudi.“ – „Thank you very much, Trudi, you made my day! Thanks! May I hug you?“ frage ich in meiner Erleichterung. Da breitet Trudi mit einem Lächeln schon beide Arme aus und zwei völlig fremde Menschen fallen sich um den Hals.

Zurück im Auto kommen ein paar DIS-Momente, die ich inzwischen lerne zu ertragen: Hallo Schuh, piepst ein Gedanke in meinem Kopf, als ich den gefundenen Schuh neben seinen Zwillingsbruder stelle. Wo warst du denn? piepst es weiter. Dachte, ich mach mal ein bisschen auf Abenteuer auf eigene Faust. Immerhin bin ich 60 km weit ganz allein gekommen. – Kindergarten. Das war nicht lustig und das ist kein Spiel, verdammt, denke ich aus ∑ich. Einatmen, ausatmen.
Aber das war lustig: Ich weiß, warum die Füße in der Wüste wachsen! denkt das piepsende Ich… mit Kinderstolz…? Einatmen, ausatmen.

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„Ich habe nicht geschimpft,“ spricht mein Mann mit ein bisschen Männerstolz. – „Dafür wollte ich mich eh noch bedanken. Ich kniee nieder vor dem Meister der Impulskontrolle,“ antworte ich mit authentischer Anerkennung. Mein Mann lacht. „Ich habe den richtigen Mann geheiratet,“ lache ich zurück. – „Ich liebe dich auch,“ sagt der.

Reiseimpression #3. Wenige Tage vor unserer Rückkehr nach Europa frage ich mich, ob ich außer einem blauen Schuh, der in der Wüste zu klein für meine Füße war, noch etwas anderes auf dieser Reise gefunden habe – abgesehen von unserem eigentlichen Reiseziel: Wildtierbegegnungen, die zweifelsohne beeindruckend waren.

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Wenn’s nun noch hautnäher wird, krieg ich Angst. 😉 White Rhino mit Baby.

Ich versuche während der Fahrt auf einer dieser typischen Schotterpisten in Worten einzusammeln, was ich sonst noch unterwegs gefunden habe… und dann erreichen wir die nächste Logde… Wie immer, wenn man hier in diesem dünnstens besiedelten Landstrich auf Menschen trifft – nach hunterten Kilometern Fahrt durch die Einsamkeit -, begrüßen sie einen mit einem kalten Getränk, gekühlten Tüchern und vor allem: einem breiten Lächeln – einem Lächeln, das einem direkt ohne Umwege und mitten aus dem Herzen afrikanisch-wild-ungebremst entgegen zu brechen scheint. Mir fällt auf, dass ich nach mehreren Wochen beinahe täglicher Wiederholung dieser Interaktion vollautomatisch und von Herzen zurück lächle. Mein Fassadenlächeln hatte ich auch in den letzten Monaten verfügbar… aber das ist ein anderes Lächeln. Ich freue mich, einen Menschen zu sehen, der mir augenscheinlich wohlgesonnen ist…

Ich habe mein Interesse an Menschen wiedergefunden.

Ich habe mein verlorenes Lächeln wiedergefunden – irgendwo in Afrika. Der Schuh war wichtig. Aber ich glaube, das Lächeln ist mir wichtiger.

Am nächsten Tag setzt mein Flieger am Boden auf. Übermorgen treffe ich mich mit KR.


Wann hast Du das letzte Mal was Wichtiges gefunden – auf einem echten oder sprichwörtlichen Weg? // Wie war Dein letzter Urlaub mit Viele-Gehirn? Hast Du Urlaubstipps für mich?

Bildnachweis Beitragsbild: pixabay / bamcrations01, restliche Bilder: meine

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2 Kommentare Gib deinen ab

  1. Hiltrud sagt:

    Toll 🙂
    Weiter so!!!
    LG

    Gefällt 1 Person

  2. Alice sagt:

    Einfach toll
    Das klingt echt wunderbar und ich freue mich für dich, dass du wieder ein Stück Leichtigkeit gefunden hast.

    Gefällt 3 Personen

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