100 Fernreise mit Rudel-Ich

Fernreise – Langstreckenflüge mit schreienden Babys und kotzenden Passagieren – kein Rückzugsort für Wochen, niemals allein mit mir außer auf dem Klo – kaum unbeplante Zeit. Das ist jener Teil der Urlaubsbedingungen, vor dem ∑ich eigentlich weglaufen sollte (?). Einige Zeit vor der Abreise – auf die ich mich so freue! – habe ich bemerkt: Manche aus ∑ich möchten so schnell wie möglich wieder zuhause sein. Gleichzeitig fühlt sich reisen an wie mein natürlichster Zustand: vieles infrage stellen, weil einem die kulturelle Beschränkung der eigenen Gedanken bewusst wird – jeder Tag ein neues Abenteuer, neue interessante Menschen, neue Impressionen – Zeit für meine Familie ohne den gerinsten Störfaktor.

Das ist der erste Urlaub seit vielen Jahren, in dem du dir nicht den Rücken verrissen hast.

I., mein Mann zu mir

Die letzten Fernreisen waren überschattet von anhaltenden körperlichen Beschwerden, die auf Medikamente nicht reagiert haben. Was war diesmal anders? Die Planung. Hier notiere ich meine Tipps und Tricks (vor allem für mich, für’s nächste Mal – weil’s echt gut geklappt hat diesmal):


Berechenbarkeit. Eigentlich mochte ich das Gefühl der zeitlichen Orientierungslosigkeit im Urlaub… „Ist heute Montag oder Mittwoch?“ Vielleicht tut es manchen aus ∑ich nicht nicht gut, besonders bei Fernreisen mit einem Wechsel aus eher turbulenten und entspannenden Tagen. Während das Alltagsteam die Reise in vollen Zügen genießt und gar nicht mehr nach Hause will, verlieren andere, die die sichere Umgebung zuhause schätzen, vielleicht die Orientierung?

  • Ich habe daher meine Tabletten für die gesamte Reisezeit in eine Tablettenbox mit Tageskammern sortiert. Das hat funktioniert wie ein unauffälliger Adventskalender: wenn alle Tabletten weg sind, lande ∑ich wieder zuhause.
  • Auf jeder Reise, seit ich ohne meine Eltern unterwegs war, habe ich ein Reisetagebuch geführt. Nun habe ich die alte Gewohnheit erstmals mit neuen Ideen des Bullet Journalings kombiniert: Ich habe meine Reiseeindrücke nicht bloß im Nachheinein aufgeschrieben, sondern stets jeweils fünf Tage vorbereitet (blau, wobei Freiraum für spontane Aktivitäten war: Spaziergang am Pier etwa), meine übliche Wochenstruktur aus dem Alltag übernommen und die Aktivitäten aus unserem Travel Itinary eingetragen. Rundherum war etwas Platz für Notizen der Highlights (im Nachhinein: schwarz).

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In der ersten Woche haben wir über dem Abendessen heiße Diskussionen geführt, wie eine Aktivität zu bewerten ist. Da die Einigung schwierig war, haben ab dem 6. Reisetag sowohl mein Mann, als auch mein Kind ein eigenes Bewertungskästchen gefordert: links ich, Mitte mein Mann, rechts mein Kind (leer = könnte besser sein, Punkt = okay, Strich = toll, obere Hälfte ausgemalt = sehr toll, ausgemalt = don’t miss!) So konnten wir auch einfach tracken, wer bei welchen Aktivitäten dabei war.


Meine ersten beiden Amtshandlungen auf afrikanischem Boden sind jedes Mal identisch (ich lerne da offenbar nicht dazu): Ich hole mir eine Erkältung an den  Abenden mit um die null Grad. I. war sogar mit Fieber im Bett, und der hat ein Immunsystem wie ein Wasserbüffel. Dann folgt traditionstreu ein Sturz auf einer nicht DIN-genormten Treppe.

Ich schmunzle über sowas. Andere aus ∑ich finden selbst sowas „zu schlimm, um es nicht verhindern zu wollen“ – oder so? Schon im ganz normalen Alltag habe ich im letzten Jahr bemerkt, dass manche kleine Veränderungen einige aus ∑ich durcheinander würfeln können. Kleinigkeiten bauschen sich manchmal zu einem inneren Konflikt auf: Soll der Einband des nächsten Notizbuchs gelb oder weiß sein? Auf einer Reise durch den Busch wird es jede Menge kleine Unwegbarkeiten oder sogar echte Gefahren geben. Daher habe ich mir vor der Reise Gedanken gemacht, welche Arten  innerer Rücksichtnahme helfen könnten:

  • Auf der Raritäten-Seite werden andere Gewohnheiten als in Europa festgehalten, auch einiges, das für Kinder besonders interessant ist (etwa warum Kudus mit dem Bauch nach oben in der Mittagssonne schlafen).
  • Insgesamt bin ich ein echt abenteuerlustiger Mensch! Manche aus ∑ich ängstigen sich hinterher – und ich denke (?), dass das meine körperlichen Beschwerden auf Reisen macht. Ich habe mehrere Doppelseiten befüllt unter dem Titel „My daily cup of adventure in Africa“ – das hat Spaß gemacht, hat beim Malen mehrere aus ∑ich zusammengebracht, hat manchen geholfen, Miniaturturbulenzen am sicheren Ort des BuJos abzulegen und war somit sehr, sehr beruhigend. Auch da haben wir Haken gesetzt, wer aus meiner Familie ein bestimmtes Abenteuer bestritten hat und wem es „fehlt“.

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Und da haben wir alle drei doch einiges zu erzählen! … mein Kind mag am liebsten die Geschichte, als wir am Seuchenteppich einer Nationalparkaufsicht vom diensthabenden Tierarzt auf einen platten Reifen aufmerksam gemacht wurden. Das ist wohl passiert, als mein Mann einer Herde Elefanten ausweichen musste (und über einen Flat-Tyre-Bush – der heißt schon so! – gefahren ist). So wechselt der Tierarzt unaufgefordert den Reifen, während mein Mann nicht mehr zu tun hat, als das Werkzeug zu reichen. Ein paar Kinder haben sich vorsichtig dem unseren angenähert – es dauert ganze 10 Sekunden, bis alle gemeinsam turnen, singen, klatschen und tanzen.

Und das ist der Moment, wo sich jemand aus ∑ich meldet, die nicht spricht, aber die gerne mit den Kindern tanzen will – und das war dann auch total okay. Inzwischen darf das sein – und es ist ein schönes Beispiel, wie sich eine Reifenpanne zu einer unvergesslichen Erinnerung umformieren kann. (Nachtrag: Und heute sitze ich hier und finde niemanden in ∑ich, der sich an das Tanzen erinnert. Im „gemeinsamen Gedächtnis“ „steht“ der Eintrag: Es war total toll. Aber da sind keine Bilder, keine Geräusche, nichts gespeichert. *seufz* Ich bin frustriert, wenn das passiert: Wozu fahre ich überhaupt auf Urlaub?! Und versuche mir zu sagen: Jenes Ich, für das der Moment so toll war, hat die Erinnerung für immer mitnehmen können.)

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  • Aus der Ergo-Therapie weiß ich, dass für einige aus ∑ich ansehen nicht ausreicht. Daher habe ich diesmal unterwegs mehr eingesammelt als nur Erinnerungen in Textform und Fotos: In meinem BuJo kleben Federn von Perlhühnern und Flamingos, gepresste Plätter des M***e-Baums und sogar ein Stachel eines Stachelschweins – der fühlt sich ganz besonders gut an, so leicht und elastisch und schwarz-weiß.
  • Tiere lieben wir alle – einige Doppelseiten zu Tierbeobachtungen mussten einfach sein (auch ganz ohne DIS oder PTBS hätten die sein müssen).
  • Bewegung ist gut für mich – und wenn ich tagelang nur in Verkehrsmitteln hocke, tut das dem Tonfall bei der Streiterei in meinem Kopf nicht gut. Bei diesem Afrika-Aufenthalt haben wir ganz besonders drauf geachtet, auch Wanderungen, Ausritte und ähnliche Aktivitäten zwischen Game Drives und Bootstouren zu packen.
  • Außerdem haben wir aus diesem Grund (Autofahrten sparsam einplanen) meist 2-3 Nächte pro Unterkunft geplant.

Eigentlich war das alles gar nicht viel Zeitaufwand. Der Unterschied zu anderen Urlauben jedoch war riesig! Noch mehr als letzten Urlaub war es ein Rudelausflug mit ∑ich, obwohl es eigentlich eine Individualreise war. Nur einen einzigen Tag habe ich als anstrengend bewertet. Und nach der Rückkehr fühle ich mich aufgetankt mit Energie. Auf ins Leben. 🙂


Reisetipps mit DIS / DDNOS / kPTBS? Ich freue mich auf Deinen Kommentar!

Im Bild: Ein Jäger mit Gazelle – war halt nicht schnell genug für die Leoparden-Mami mit Nachwuchs.

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Ein Kommentar Gib deinen ab

  1. Pauline-s sagt:

    Reisetip meinerseits: Nur so viel Gepäck dulden, wie aufs Fahrrad passt und zudem von uns fortbewegt werden kann; Fotoapparat checken, Trinkflasche befüllen, Handyakku checken, losfahren, gucken wohin es mich und uns treibt. 😀

    Gefällt 1 Person

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