101 Technik (1) und deren (nicht) Vorhandensein

Nur vier Nächte unserer Afrika-Reise verbringen wir in Hotels. Alle anderen Nächte schlafen wir in Lodges mit meist etwas über einem Dutzend Hütten, mehrfach in Zelten oder ganz unter freiem Himmel mitten in der Wüste. Täglich schlagen wir hungring beim Abendessen auf, wo wir zu Dritt die Eindrücke des Tages Revue passieren lassen. Danach geht’s geradewegs ins Bett, weil Strom knapp ist mitten im Busch, und weil es an einigen Tagen notwendig ist, schon vor Sonnenaufgang mit dem Fernglas im Jeep zu sitzen. Unter diesen Bedingungen fällt mir erst am 12. Reisetag auf, dass keines unserer Quartiere bisher einen Fernseher im Zimmer oder in der Lobby hatte. Man vermisst es nicht. Ganz ehrlich – wie soll irgendeine Fernsehsendung annähernd an das rankommen, was wir heute live gesehen haben? Landschaftlich oder Wiltiere betreffend?

Beitragsbild: Ich liebe open-air-Badezimmer. Man tritt aus dem Zimmer hinaus, um sich unter freiem Himmel die Zähne zu putzen. Herrlich! Was für ein Kontrast zu fensterfreien europäischen Badezimmern…

Wer braucht da Unterhaltungselektronik? In der letzten Lodge unseres Trips angekommen, fällt mir auf: Hier gibt es erstmals Musik beim Abendessen. „Ohne war’s besser,“ sage ich zu meinem Mann. „Das hier ist geplant als langsamer Eintritt in die Erdatmosphäre… also in die Umlaufbahn der Zivilisation, meine ich natürlich,“ antwortet der und nimmt meine Hand. *seufz*
So richtig flasht mich mein erster Supermarktbesuch nach unserer Rückkehr. Ich fühle (fühle! ich!) wie sich meine Nackenmuskeln anspannen: Eine solche Menschendichte habe ich wochenlang nicht erlebt – ich bin geeicht auf eine Pupulationsdichte von zwei Menschen pro Quadratkilometer. So schnell wie möglich raus hier, denke ich, während ich Dinge aus den Regalen reiße und in den Wagen pfeffere. Die Musik schallt mir durch Mark und Bein, und als schließlich eine Werbedurchsage kommt, finde ich mich wieder mit auf die Ohren gepressten Handflächen.

Kann ich bitte weniger Technik? Kann ich Kerzenschein statt Strom? Kann ich bitte raus hier? Das sind nach der Wildnis zu viele Reize. Viel zu viele.


Wie oft kommt es im 21. Jahrhundert vor, dass man traditionelle Post bekommt – wenn man von Rechnungen, Werbung und andere gewerblichen Zusendungen absieht? Wenn man von der Snail Mail außerdem noch die Einladungen zu Hochzeiten und runden Geburtstagen abzieht – wie oft bekomme ich dann Post? Unvorbereitet? Überraschend?

Und dann bekomme ich zweimal stromsparende (aber nicht gerade CO2-neutrale 😉 ), traditionelle Post in weniger als sieben Tagen. Der erste Brief ist von… sie möchte im Blog nicht genannt werden, steht gleich im ersten Absatz. Es ist auch egal, von wem der Brief ist – ich möchte schreiben, was er mit mir gemacht hat, denn noch nie in meinem Leben ist sowas passiert wegen eines Briefs (oder ich hab’s verDISt):

Ich habe mich schon erschrocken beim Kuvert. „Wirf das weg, wirf das sofort weg!“ ich soll ja entgegengesetzt handeln, also aufgerissen. (…) Und dann rennt plötzlich jemand aus ∑ich über eine Stunde schreiend und heulend in der Wohnung auf und ab. Weil sie sich verfolgt fühlt bis in die eigene Wohnung. Was eigentlich ein sicherer Ort sein soll. Weil sie glaubt, das ist ein Problem, dass die Absenderin meine Wohnadresse hat und demnächst vor der Tür stehen wird. Seit der Klinik geht das nicht mehr – hinterher bis ins Zimmer. Seit der Helfer-Täter-Verwirrung geht sowas nicht mehr.
Ich kann das grad nicht aushalten, dass ich PHYSISCHE Post in meine Wohnung bekomme. Über eine Datenleitung – kein Problem. Zum Anfassen – voll bedrohlich.
Während ich ihr erkläre: „Siehst, jetzt hast ein schönes Bespiel für einen Trigger, wo du immer sagst, du weiß nicht, was das sein soll (…).“
Wann hatte ich sowas zuletzt? meine übliche orientier-dich-frage: am Entlassungstag aus der Klinik. Vor ziemlich exakt drei Monaten. Helferkontakte – boa.

Wäre das nicht sofort aufgeschrieben worden, hätte ich das verDISt – ich erinnere nicht mehr, in der Wohnung auf und ab gelaufen zu sein, aber ich glaube, dass das passiert ist, weil’s aufgeschrieben wurde. *stöhn* Wieso hast du sofort geantwortet, obwohl du so durch den Wind warst? will ich wissen. – Weil die mir ins Zimmer nachlaufen und im Bett aufs Knie greifen, wenn ich nicht schnell genug antworte,“ denk-schreit sie in ihrer Verzweiflung. Puh, ja, das hat man ihr damals so gesagt auf die Frage, warum das mit dem Knie (073) so passiert ist: „Weil Sie nicht reagiert haben.“ Oder nicht schnell genug. Das entgegengesetzte Handeln – wo hast du das gelernt? will ich außerdem von ihr wissen. In der Klinik: man soll entgegengesetzt handeln, haben sie gesagt, denkt sie in meine Richtung. Oh je, ich aus ∑ich erinnere keine Psychoedukationsstunde, in der das vorkam, aber ich erinnere ein Handout – und frage mich, wie man traumatisierten Menschen, oder irgendwelchen Menschen, beibringen kann, im Stress das Gegenteil vom eigentlichen Handlungsimpuls zu tun? Wenn man sich im Stress vorstellt, man umarmt (zur Not) eine völlig fremde Person… das Gegenteil davon wäre… ich bin so froh, dass ich Trudi keine gescheuert habe! (099) Ist diese Faustregel nicht ein bisschen unpräzise im Hinblick auf ihren Ausgang? Ist das nicht die Anleitung zur Unauthentizität? – und somit möglicherweise deprimierend, denke ich nur für mich. Ich halte das für ein bisschen gefährlich, was du da gelernt hast, denke ich in ihre Richtung, und bezweifle außerdem, dass die das in dieser Psychoedukationsstunde so gemeint haben, wie sie aus ∑ich das verstanden hat. Darf ich dir was anderes an die Hand geben? Wie wäre es, wenn du als erstes für Sicherheit sorgst statt entgegengesetzt zu handeln? frage ich sie, aber ich bin nicht sicher, ob sie noch da ist. Mist.

Fortsetzung folgt passwortgeschützt, weil es da um einen Brief von meiner Mutter geht…

Reizüberflutung – irgendwelche Tipps? Faustregeln für Stress mit Traumafolgestörung – kennst Du da irgendwelche guten? Kommentar? Gern!

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11 Kommentare Gib deinen ab

  1. lecram82 sagt:

    puh. gerade noch (fast) „sprachlos“. das ist ja allein im zweiten teil etwas was total viele ebenen betrifft.

    und gerade wirklich schwierig einen tipp zu geben weil das gefühl dass das nur „flach“ erscheinen kann (und auch nicht schnell umsetzbar sind glaube ich?!) gegen die not die hier zu lesen und nachzuempfinden gemeint wird.

    wir haben in der dbt viel mit spannungsbögen, stresstoleranz, der unterschiedlichen funktion unterschiedlicher „skills“ gearbeitet – und einiges davon hilft hier in inzwischen nicht wenigen situationen die lage etwas entspannter zu halten (und aber auch zu verstehen, warum ab einem bestimmten punkt garnichts mehr geht bzw dissoziert wird)

    wenn du möchtest versuche ich das gerne mal in „tipp-form“ zu komprimieren, möchte hier aber jetzt nicht einfach so ungefragt loslegen – und vielleicht antwortest du ja auch „alter hut, danke aber kenn ich schon“ – und dann bräuchte es das ja auch nicht.

    liebe grüße, lamorada

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    1. Hallo l., mich würden Deine Tipps sehr interessieren! Wie gesagt: Ich suche nicht etwa für die Brief-Situation selbst (dafür tritt sowas viel zu selten auf und ist nun auc nicht völlig unerträglich so wie Stupor), sondern 1. eher so generelle Maxime, die einfach genug sind, dass die simpel gestrickten Versionen von ∑ich sich das merken können und auch verstehen. Und 2. was gegen das Reizüberflutungsthema, gerne auch präventiv. Ich freue mich, von Dir zu lesen! lg s

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  2. lecram82 sagt:

    einfache maxime…puh das ist ja schon mal eine herausforderung. da fällt mir ein:

    Die Anspannung geht von 0% – 100 %

    Diese wird in verschiedene Stufen unterteilt, bei mir ist es zb so das ich sage

    0 – 30% keine anspannung
    30 – 50 % leicht angespannt
    50 – 70 % ist so der mittlere anspannungsbereich
    70 – 100% höchste anspannnung.

    mir überhaupt erstmal darüber klar zu werden wann ich in welchem bereich bin und an welchen merkmalen ich das festmachen kann für mich. (das geht dann über gedanken, gefühle, körperliche merkmale…)

    und dann ganz wichtig für mich: ganz klar anzuerkennen das ich ab 70% im hochstress und damit nur noch eingeschränkt handlungsfähig bin. es also da dann nur noch darum geht mittels skills wieder unter 70% zu kommen und nicht mehr darum irgendetwas noch „toll“ hinzubekommen weil bei mir ab 70% dann auch das „driften“ beginnt und ich nah am dissoziativen dran bzw schon drin bin.

    also auf dich gemünzt: vielleicht kannst du den einfach gestrickteren anteilen verständlich machen dass wenn sie in diesem bereich der hochspannung / der absoluten not sind nur noch handlungen geschehen sollten die dabei helfen wieder „boden unter die füße zu bekommen“ da sinnvolles handeln für das gehirn schlichtweg nicht mehr möglich ist.

    soviel erstmal jetzt. gerne noch mehr aber das ist hier auch ein abwägen von was „öffentlich“ schreiben ohne zu wissen wer das noch so liest und wie es verstanden wird und auch selber ein rumtüfteln am formulieren 🙂

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    1. Birke(von)Zeitenmosaik sagt:

      Danke für deine Worte: „und dann ganz wichtig für mich: ganz klar anzuerkennen das ich ab 70% im hochstress und damit nur noch eingeschränkt handlungsfähig bin.“ Ich habe auch so eine Skala und übe genau das auch, wahrzunehmen, wie hoch das Erregungslevel ist… ich machs mit 1-10… bei 8 ist bei mir der rote Bereich… Doch wie du schriebst, dann wirklich wirklich wirklich anzuerkennen, dass das Hochstress ist und es ist nur noch darum geht wieder „runter zu kommen“ und nicht im Außen noch unauffällig weiter machen zu wollen, DAS ist eine gute Erinnerung und hier auch noch immer schwierig anzuerkennen…

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  3. sophie0816 sagt:

    Die beschriebene Technikfreiheit im Urlaub hab ich mit großem Interesse aufgesaugt und kenne es aus früheren Natururlauben auch, dass mich die Rückkehr in die laute, schnelle Stadt hier immer ganz fertig, traurig und fremd fühlen lassen hat.

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    1. Birke(von)Zeitenmosaik sagt:

      Technikfreiheit kann man auch im Kloster haben… eine Woche Schweigeexerzititen und … danach dreht sich die Welt auch viel viel viel zu schnell… Auf dem Heimweg kaufte ich beim Bäcker ein Brot… und stand da und stand da… bis ich angesprochen wurde, dass ich jetzt bezahlen müsste… „oh ja“.. „äh“… Das Ankommen in der Welt braucht nach Klosteraufenthalten auch immer wieder ein paar Tage…

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      1. Das ist eine gute Idee! Danke! Werde mich mal umhören… herzlichst Gipfelgrüße, bin gerade im See baden nach dem Abstieg. Lg

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  4. lecram82 sagt:

    oh, also natürlich kann noch sinnvolles handeln möglich sein im sinne von „sich wieder in eine etwas ruhigere zone bringen“ – ich meinte eher situationen im außen sinnvoll fortsetzen / klären.. also mal so ganz banal: wenn ich in der u-bahn in diesen hochbereich reingerate kann für mich das einzig sinnvolle auch sein: ich verlasse die situation,sehe zu das ich etwas ruhiger werde – weil auch das kann ein skill sein.

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  5. echtjetzt? sagt:

    @lecram82: Danke, das hilft mir gerade sehr Deine Erklärung. Ich habe mich heute für ein paar Tage krank schreiben lassen und einige Anteile verurteilen mich dafür. Aber Deine Skala hilft voll. Gerade ist es erstmal die Aufgabe vom System wieder unter 70 % zu kommen. Danach kann ich wieder weiter machen. aber erstmal alle beruhigen scheint gerade Aufgabe genug zu sein.
    @Sonrisa: irgendwas erschreckt mich total an Deinem heutigen Blog-Artikel. Also irgendwas wegen dem Brief, der auf einmal da ist. Daher nur „ich habs gelesen und fühle mit“, habe aber keine hilfreichen Worte, da ich selber zu erschreckt bin

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    1. Hallo, oh nein, tut mir leid. Das wollte ich nicht. lg

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  6. echtjetzt? sagt:

    Ach was, das ist schon okay. Ich wollte nur mitteilen, dass ich es es gut nachvollziehen kann, dass Du Stress hattest aufgrund eines Briefes.

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