+++ Shiatsu Special: Körper-Erinnerungen +++

Ich habe eine dissoziative Identitätsstörung und gehe trotzdem deswegen zum Shiatsu. Was für die meisten Menschen „einfach nur angenehm“ ist, ist für mich ein Abenteuer – immer wieder. Es passieren unvorhergesehene Dinge.

„Ist Shiatsu nicht… extrem gruselig?“ wollte meine Therapeutin mal wissen. „Jaaa, ich muss schon mutig sein.“ – „Sie sind viel mutiger als die meisten Menschen.“ – „Hm. Mut tut gut, sagte mir mal eine ziemlich mutige Person.“

Dialog vor Jahren mit einer Blinden. Sie: „Am liebsten gehe ich ausreiten. Ich habe zwei Pferde.“ – Ich: „Wow, wie cool! Begleitet dich dein Mann?“ – „Nein, der reitet nicht. Ich gehe mit meinem Pferd und meinem Hund.“ – „Alleine?“ – „Ja, ich mache alles allein. Ich miste alleine aus, ich sattle alleine, ich reite alleine. Ich kann alles alleine.“ – „Das ist beeindruckend. Wie hast du das geschafft?“ – „Ich musste lange üben, bis ich richtig satteln konnte. Ohne Falten und so. Aber jetzt kann ich es. Die Ausreitwege gehe ich vorher zu Fuß ab mit meinem Führhund. Da hab ich einen langen Stock in der Hand, damit ich merke, ob in Kopfhöhe am Pferd Äste im Weg sind.“ – „Das ist krass… mutig!“ staune ich. „Ja, aber Mut tut gut!“ kontert sie. „Merkst du dir nie einen Ast falsch? Was passiert, wenn da ein Ast ist, der letztes Mal noch nicht da war?“ – „Dann hab ich einen blauen Fleck! Aber bis zum blauen Fleck hatte ich Spaß!“ sagt sie und wir lachen beide los.


Ich denke nicht, dass man lernen kann, Menschen so anzufassen, wie P. das macht. Menschen, die mich gut kennen, beschreiben mich üblicherwiese als taff. „Mein Körper ist wie Efeu, man kann ihn kaum vernichten,“ hab ich mal gesagt. Mein Mann findet mich unverwüstlich. und schwärmt von meiner Ähnlichkeit mit Daenerys Targaryen (050). Und dann berührt P. mich, als wäre ich zerbrechlich – genau so, wie man einen großen Glasgegenstand anfassen würde. Nicht zimperlich, aber bedacht.

Im Alltag fühle ich mich oft unkaputtbar. Unlängst ertappe ich mich bei dem Gedanken: „Aus 20fach gehärtetem Stahl.“ Man hat mich verdichtet durch Gewalt. Was nach der Gewalt bleibt, ist… ich habe einen ziemlich guten Panzer für allerlei Mitmensch-Sch§$%.

Beim Shiatsu fühle ich mich manchmal zerbrechlich, aber nicht zerbrochen und kaputt, wie ab und an mal in der Therapie. Das muss man erstmal aushalten… ein Zerbrechlichkeitsgefühl. Es ist deswegen erträglich, weil P. mich so anfasst, wie sie mich anfasst. Shiatsu fühlt sich ein bisschen nach Realitätskorrektur an: Manchmal bin ich unkaputtbar, manchmal bin ich zerbrechlich.

P. ist der Mensch in meinem Leben, dem gegenüber ich am ehesten die Einsmensch-Fassade fallen lassen kann. Irgendwann habe ich mich zu ihr sagen getraut: „Ich glaube, das war jemand anders aus ∑ich.“ Wäre morgen meine nächste Therapiestunde, würde ich mir das nicht mal zu KR sagen trauen. Bei Psymenschen habe ich immer Angst, dass es am Ende hieße: „Sie benutzt ihre Störung als Ausrede.“ Das Wort Störung auf mich bezogen höre ich immer als Stromschlag, als greift man in einen Zaun mit schottischen Hochlandrindern. Gleichzeitig weiß ich, wie absurd der Vorwurf wäre, wo mein berufliches und privates Umfeld nicht informiert ist über „meine Störung“ und ich auch mit der Handvoll Informierten einen „dass ja nichts auffällt“-Kurs fahre.


Eines Tages komme ich zum Shiatsu mit dem Gefühl, kaum Luft zu bekommen. Am Vortag konnte ich deswegen nicht einschlafen. Mein Brustkorb fühlt sich nicht an, als wäre er groß genug, um zu atmen. Als würde er gequetscht? In kenne das. (045) Natürlich weiß ich, dass man nicht einfach so ersticken kann, trotzdem kann ich das Gefühl und die Schmerzen an den Rippen seit Tagen nicht abschütteln. Ich erzähle P. davon. Das Shiatsu beginnt bei Kopf und Nacken, aber dann fasst sie mir an die Rippen und an den Bauch – erstmals seit langem. Danach kann ich normal atmen.

… zumindest für mehr als 24h lang, dann ist das Gefühl zurück, wenn auch nicht so schlimm wie vorher. Die Erinnerung ist im nachhinein ein bisschen gruselig: Als hätte P. mir an den Bauch gefasst und da war kein Bauch. Als hätte sie durch mich hindurch bis an den Boden gefasst, und da war kein ∑ich; als hätte mein Körper ein Loch von unterhalb der Rippen bis zu den Knien. Zwei Tage später schreit ein ∑ich: „Du darfst nicht durch mich hindurchfassen!“ Es hat ziemlich große Angst und lässt sich nur schwer beruhigen. Es fürchtet, die Augen auf zu machen und P. dabei zu sehen, wie ihr Arm bis übers Handgelenk in meinem Bauch steckt. Es ist gruselig so deutlich zu bemerken, welche Teile des Körpers ich habe (haben darf?) und welche nicht (da sein dürfen?). Ich bin ein bisschen sprachlos, dem ängstlichen Ich gegenüber? Ich wollte nicht sagen: „Anderer Leute Körperteile können nicht einfach in deinem Körper verschwinden! Das kann nicht sein! Weißt du das nicht?!“ Und kaum hab ich es gedacht, falle ich in ein inneres Schweigen, das nun seit gestern anhält.


Die Woche davor waren wir gemeinsam essen nach dem Shiatsu, wie wir das fast jede Woche machen. P. sagt: „Meistens geht es nur einzelnen Menschen schlecht. Manchmal ist das echt komisch. Da hab ich sechs Kunden an einem Tag und allen geht es schlecht.“ Als hätten die sich abgesprochen. Als würden die sich untereinander kennen. Das Ich, das mit P. so gerne essen geht, würde am liebsten fragen: „Was sage ich eigentlich, wenn du mich fragst, wie es mir geht? Sage ich dann mit einem Lächeln: Super? Jammere ich dann? Ich habe keine Ahnung, was du und dieses Ich am Stundenbeginn besprechen…“

Es wird der Tag kommen, wo ich mich solche Dinge aussprechen traue P. gegenüber. Es ist schön, dass es dich in meinem Leben gibt, P.

Kommentar? Gern!

Hier geht’s zum letzten Artikel über Shiatsu in diesem Blog 172 Was wurde eigentlich aus Shiatsu? zum vorletzten 107 Traumaexposition mit vollständiger innerer Ruhe und hier zu „wie alles begann“ 026 Wahltag in Japan

Beitragsbild: pixabay / nikiko

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7 Kommentare Gib deinen ab

  1. Lisa sagt:

    Wie schön so jemanden wie P. Zu haben!
    Wie schön, dass du so mutig sein kannst. Zum Teil kennen wir das auch und ja stimmt, Mut tut gut und gehört zum Leben.
    Ich glaube aber die Gewalt hat uns zerfressen und wir können all dem nicht viel entgegen setzen. Als wenn große Brocken herausgerissen wurden und der Panzer mehr da sein kann.
    Liebe Grüße Lisa

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    1. Oh wie traurig, dass Du Dich so siehst. Gibt es eine Art gesunde Insel, und sei sie noch so klein, in Dir? lg s

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  2. sophie0816 sagt:

    Wie oft gehst du zur Behandlung?

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    1. Zum Shiatsu? 1x pro Woche eine halbe Einheit (45 min, davon reden wir vorher und nachher ein bisschen)

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      1. sophie0816 sagt:

        ah ja. danke für die info!

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  3. Schattenland sagt:

    Mut ist genau das, was mir im Leben fehlt. Ich bewundere deine Haltung!

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    1. Ich finde, jeder ist mutig. Wann hast Du zuletzt einen mutigen Schritt getan? … und wenn auch nur einen kleinen?

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