175 Leben ohne Gedächtnis – traumabedingt

Ich habe eine aburde Existenz, finde ich seit Jahren. Mir wird Mitte dreißig von Ärzten im örtlichen Krankenhaus erklärt, dass das, was ich da habe, eine dissoziative Störung sei. Mein stundenlanges Nichtbewegenkönnen heiße Stupor und wäre kein neurologisches, sondern ein psychiatrisches Problem im Rahmen einer schweren Traumafolgestörung. „Ja, die PTBS ist eh bekannt von dem Erlebnis Mitte zwanzig.“ Und: „Trauma als Kind sagen Sie? Aber welches Trauma denn? Was soll das denn gewesen sein? Meinen Sie den Hundebiss?“ Nein, man bekäme keine dissoziative Störung von einem traumatischen Erlebnis jenseits der zwanzig oder einem Hundebiss als Kind. Den Rest an Erklärungen, der dann folgt, kann ich nicht glauben.

Erzählen die mir, ich habe ein anderes Leben, als ich immer dachte?! Wer war dabei – die oder ich?! Der Rest des Gesprächs rauscht an mir vorbei. Wir sitzen schweigend da, mein Mann und ich, vor den Ärzten. Dann nimmt er meine Hand. Meine Erinnerung endet an dem Punkt. Insgesamt wirkte damals alles surreal auf mich: Das beginnt ja schon mit „ich, auf der Psychiatrie!“ Kann nicht sein. Absurd eben.


Heute weiß ich, dass weder die Ärzte, noch „ich“ in meiner Kindheit dabei waren, aber ich verstehe meine Symptome und komme auf dieselbe Schlussfolgerung: Ich kenne leider fast alles aus persönlicher Erfahrung, was im Diagnosekatalog ICD10 unter F44.0-6 dissoziative Störungen steht. Nein, die Ärzte irren sich nicht. Soll ich an der Stelle anmerken, diesen Artikel schreibt das Alltagsteam?

„Wie würde ich mein Elternhaus beschreiben? Als eines der top-3%-Elternhäuser in unserem Land,“ genau das habe ich zu KR gesagt bei unserem ersten Treffen vor knapp 15 Jahren. Und damals auch geglaubt. Ich hatte als Teenager meinen ersten Sex mit der Idee, dass es mein erster Sex war – heute weiß ich: Es war wohl eher der erste einvernehmliche Sex. Ich habe meinen Mann kennengelernt und einige Jahre später mit ihm ein Baby geplant, weil wir dachten, wir wären zwei gesunde, kluge, starke Akademiker, die’s im Leben checken. Falsch, sagt man mir auf der Akutspychiatrie, als das Kind schon zur Schule geht.

Was hätte ich also davor outen sollen? Heute ist das komisch, wenn ich irgendetwas oute, eigentlich oute ich ja immer „fremden Ichs Historie.“ Von diesem Moment auf der Akutpsychiatrie hat es nochmals Jahre gedauert, bis ich meine „Horrorvisionen,“ die mich dorthin gebracht haben, in „Erinnerungen“ umbenennen konnte, weil sie welche sind. Ich habe mich gefühlt habe wie eine Mogelpackung; als hätte ich meinem Mann über ein Jahrzehnt hinterfotzig vorgespielt, ich wäre „normal“, und nun informiert ihn eine Riege Psychiater, ich bin ein Mängelexemplar. Ich habe natürlich Schluss gemacht: Mit meinem Mann (mit dem klaren Auftrag, für unser Kind eine bessere Mutter als mich zu suchen, denn ich bin ja defekt und eine Betrügerin), mit allen meinen Freunden, mit meinem Job gedanklich, denn für eine Kündigung braucht man einen Drucker, den hatte ich in der Akutpsychiatrie gerade nicht handy, und beschlossen, dass ich nur noch mit Leuten spreche, die Geld dafür bekommen, dass sie mich ertragen müssen. Aus heutiger Sicht würde ich sagen: explodierte Scham, was schwer zu bemerken ist, wenn man dafür kein Konzept hat. Mein Mann hat (wie immer) super reagiert auf diesen Wahnsinn (den er von mir echt nicht gewohnt war), und nach 48h waren wir so „gemeinsam“ wie nie zuvor. Mein Leben ist skurril; sieht man es in einem Film, glaubt man es nicht, oder?


Total memory loss is common in childhood sexual abuse. (19-38%) Loftus et al. 1994

Dr. Linda Meyer Williams untersuchte die Akten von 206 Mädchen, die im Alter zwischen zehn und zwölf Jahren in der Notaufnahme gelandet sind – nach sexuellem Missbrauch. 17 Jahre später konnten 136 davon gefunden werden:

  • 38% hatten keine Erinnerung an den dokumentierten Missbrauch (wie schlimm muss das gewesen sein? Notaufnahme!),
  • 12% sagten, sie wären niemals in ihrer Kindheit missbraucht worden.
  • 16% von denen, die den Missbrauch und die Notaufnahme erinnerten, gaben an, dass sie früher nichts davon wussten, und sich erst später wieder daran erinnert hatten. Zum Zeitpunkt des Interviews waren sie 27-29 Jahre alt.

Das Vergessen korrelierte mit…

  • jüngerem Alter beim Missbrauch,
  • einem Missbrauch durch eine vertraute Person und
  • weniger Unterstützung durch ihre Mütter.

Williams also determined that the recovered memories were approximately as accurate as those that had never been lost: All the women’s memories were accuarate for the central facts of the incident. (van der Kolk 2014)

Selbst wenn ich doppelt so alt gewesen wäre, wäre die Chance sexuellen Missbrauch nicht zu erinnern, immer noch relativ hoch gewesen – jedenfalls weit weg von der Seltenheit, die ich bis vor meiner Recherche dachte.


Seit zwei Jahren begründe ich meine Existenz so: Ich bin irgendwann Ende des 20. Jahrhunderts vom Himmel gefallen. Ich hatte so viele Pseudoerinnerungen aus Fotoalben, Tagebüchern und Erzählungen, dass meine nicht vorhandene Erinnerung nicht auffiel. Nicht mal mir.


Und als ich mich aufraffe am Ende des ersten Klinikaufenthalts 2018 und zu meinem Mann sage: „Ich glaube, ich weiß jetzt, wo das passiert ist. Und mit wem, und das sind mehrere Leute, und…“ hört mir mein Mann zu. Und dann nimmt er mich in den Arm. So stehen wir da und sagen nichts. „Risa, ich weiß. Ich weiß das alles schon.“ – „Wieso? Woher?“ – „Weil wir genau an dem Punkt 2012 schon mal waren.

Ich bewundere das, wie er für mich da sein kann, dem „neuen Schrecken“ gegenüber, obwohl es für ihn nur die nächste Schleife ist, eine altbekannte. Jeder Mensch heiratet einen anderen Menschen als den, den er später pensioniert neben sich im Schaukelstuhl sitzen haben wird – das war mir immer klar! Trotzdem bemitleide ich meinen Mann für das Ausmaß meiner Veränderung. „Ich liebe dich,“ sage ich. Und „Wie hältst du das aus?“ verkneife ich mir. Mein Leben ist, als ob man es in Sand schreibt.

Quellen

BA van der Kolk 2014: The Body Keeps The Score. Brain, Mind, and Body in the Healing of Trauma. London: Penguin Books

EF Loftus, S Polonsky, MT Fullilove 1994: Memories of Childhood Trauma. Remembering and Repressing. in Psychology of Woman Quarterly 18, no. 1, S. 67-84

LM Williams 1994: Recall of Childhood Trauma. A Prospective Study of Women’s Momories of Child Sexual Abuse. in Journal of Consulting and Clinical Psychology no. 6, S. 1167-1176

LM Williams 1995: Recovered memories of Abuse in Women with Documented Child Sexual Victimizatioin Histories. in Journal of Traumatic Stress no. 4, S. 649-73

18 Kommentare Gib deinen ab

  1. Pauline-s sagt:

    Ich weiß, ist off topic, ich muss es trotzdem loswerden: Vorsicht bei der Lektüre von Elizabeth Loftus -Material. Die Dame hat False Memory Syndrom Foundation- Bezug.

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    1. Ich möchte bitte sichergehen, dass hier nicht über false Memory ja oder nein diskutiert wird. Meine Erinnerungen halte ich inzwischen für wahr. Danke und lieben Dank s

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    2. Ich möchte bitte sichergehen, dass hier nicht über false Memory ja oder nein diskutiert wird. Meine Erinnerungen halte ich inzwischen für wahr. Danke und lieben Dank s

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      1. Pauline-s sagt:

        Wie gut, dass es diese innere Klarheit inzwischen für Dich gibt! Alles Liebe!

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        1. ja, das ist ein Segen. 🙂 Hat eh acht Jahre gedautert. :-O

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  2. lunis sagt:

    Das kann ich ziemlich gut nachfühlen. Abgesehen von dem einen Punkt. Meinem Mann war das Kleingedruckte bereits bekannt. Mängelexemplar. Ja sehr treffendes Wort für dieses Gefühl.
    Aber auch ich frage sogar öfter ,,wie hältst du das aus,, die Antwort war immer,,ich liebe dich,,. Nur verstehen kann ich das nicht und muss es verbuchen unter,,dieser Mann hat einen seltsamen Geschmack,,.
    Aber ich finde es wundervoll zu lesen, wie er zu dir steht. Trotz allem. Mit allem. Ich freue mich sehr für dich.
    Mit lieben Grüßen

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    1. Spiegelsplitter sagt:

      ( staunend lese ich das. Und ich gratuliere euch zu diesen wunderbaren Männern, die so bedingungslos lieben und zu euch stehen..!)

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    2. Hallo Lunis, ich freue mich zu lesen, dass auch Du ein solch großartiges Exemplar von Mann an Deiner Seite hast. ❤ Ja, so antwortet meiner auch immer. Ich antworte dann: "Ich würde meinen Sch§$% hinter mir lassen, wenn ich könnte. Du könntest einfach gehen und tust es nicht. Ich bin die Traumatisierte und du bist der Verrückte." 🙂 Alles Liebe s.

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      1. lunis sagt:

        Ui das ist noch besser als meine Geschmacksfrage. Ich bin traumatisiert und er verrückt. Es ist schön, dass es so verrückte Menschen gibt.
        Liebe Grüße

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  3. Whoever sagt:

    .hallo Sonrisa

    … aus meiner Sicht ist verlorene, zerfetzte oder ganz schemenhafte Ahnung von Erinnerung im Falle von Trauma zutiefst nachvollziehbar und logisch. Ich denke wer es erlebt hat, weiß vielleicht was ich meine. Es gibt für mich viel mehr Bruchstücke zum davor (Versuch zu fliehen oder aufgeben und still mitgehen) und dem danach … Starre und wie nir äußerst langsam wieder etwas realisieren und da bin ich fast immer wieder alleine. Wenn man Todesangst hat – egal warum – dann kann das Gehirn das vermutlich wie nicht speichern. Das sind nur Annahmen von mir. Ich beschäftige mich weder groß mit Fachliteratur (nur sehr spezielle und sehr dosiert) noch mit Diagnosenummern. Ich mag keine Liste durchgehen und prüfen ob zutreffend. Ich glaube es ist sehr viel sehr individuell. Dennoch finde ich Deine Auszüge aus Literatur sehr interessant und hilfreich für mich.

    Liebe Grüße

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    1. Das freut mich! 🙂 Alles Liebe s.

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  4. Hey! Ich würde nicht sagen, dass du ein Mängelexemplar bist, denn das würde ja bedeuten, dass in deiner „Erschaffung“ etwas schief gegangen sei. Ich denke eher, dass du ein wunderbares Exemplar bist, mit dem nur nicht besonders gut umgegangen wurde! Ein wunderbares Exemplar mit der außerordentlichen Begabung, sich durch schwierigste Lebensumstände hindurch zu retten. Ein DIS-Leben zeugt von großer Kreativität! Wärst du ein Mängelexemplar könntest du heute dein Leben wahrscheinlich gar nicht meistern!
    Aber ja, ich kann verstehen, dass du dich trotzdem oft so fühlst und ich kenne das Gefühl, von einem Moment auf den anderen mehr Fragen als Antworten zu haben, was einen in große Scham versetzt.

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  5. aschetaumel sagt:

    Puh.. ich kann mir gar nicht vorstellen, wie krass das sein muss, wenn „sowas“ aufeinmal im Raum steht. Bei mir ist es ja so, dass ich immer schon wusste, dass da einiges nicht so supidupi war und auch mein Mann hat beim ersten Treffen schon die Arme gesehen und wusste also direkt, dass er sich da ein Mangelexemplar (ich mag das Wort, liebe Lunis^^) eingefangen hat. 😉
    Ja, eine Ahnung war immer da, aber das Schlimme war letztendlich „vor meiner Zeit“ oder ohne mich.
    Ich fürchte, da kommt nun erst so langsam einiges wirklich hoch und ich habe sehr zu kämpfen, weil ich meinen Mann so gern raushalten möchte, ihm alles ersparen, was nur geht, aber nicht weiß wie und pff…
    Mich berührt es aber total, was und wie du von deinem Mann und eurer Beziehung schreibst. Das ist einfach so schön zu lesen, wie ihr euren Weg wirklich gemeinsam geht. ❤

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    1. Ja, das war in dem Moment eigentlich zum Weglaufen, wenn er mich nicht festgehalten hätte und das so nett gewesen wäre. 🙂
      Spannend, dass Du das so ähnlich emfpindest: Ich war damals nicht dabei. Das könnte echt nochmal ein eigener Blogbeitrag werden: Ehemänner raushalten oder einbeziehen?? Denn das finde ich wirklich schwierig! … den Mittelweg zu finden… Alles Liebe s.

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      1. aschetaumel sagt:

        Das ist wohl so eines meiner Hauptthemen, dass soviel passiert ist, wo ich nicht dabei war. Finde ich immer noch sehr krass, weil es so ein ganz anderes Erlebnskonzept ist als das, wovon andere Menschen sprechen. Das ist eben einfach nicht das klassische „mein Leben“, sondern eben „ein Körperleben“, an dem ich mal mehr oder mal weniger beteiligt bin.

        Ohja, mit dem Thema Einbeziehen oder nicht könnte man sicher so einige Seiten füllen! Ich bin eigentlich totaler Fan von Raushalten, aber muss leider auch zugeben, dass das nicht unbedingt ideal ist (um es mal vorsichtig zu formulieren). Schwierig ist da wohl oft sogar noch untertrieben.
        liebe Grüße

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  6. laluna80 sagt:

    Hi, lese grad mal wieder ein wenig quer in Deinem Blog und möchte nur liebe Grüße dalassen und sagen, dass Du toll schreibst. Leider kann ich nicht lange lesen, weil mich vieles aufwühlt, weil ich es selber kenne (z.B. den Artikel mit den Erstgesprächen ohweia JA).
    Habe auch kompl. PTBS mit sehr wenige Dissoziation.
    Viele Grüße und alles Gute!!!!

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    1. Hallo laluna, schön dass Du einen Gruß dagelassen hast. 🙂 Alles Liebe s.

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  7. Oh je, das liest sich sehr schwierig… Ich hatte ehrlich gesagt nach beiden Therapiephasen (in den Jahren 200x und 20xx) hinterher etwas Probleme, mich wieder bei meinem Mann einzufinden – so rein gesprächstechnisch. Ich war jeweils monatelang gewohnt, meinen Ballast, meine GEdanken, meine Bewegungen bei KR „abzuladen“, eben um ihn nicht zu sehr zu belasten. Aber irgendwann war dann der Zeitpunkt da, wo der Vorher-Zustand wieder hergestellt werden sollte.
    Beschämend – ja, mit dem Wort kann ich was anfangen. :-/ Ich konnte das überwinden, zum Glück, meinem Mann gegenüber. Hast Du eine Antwort für Dich: Warum Du es nicht zulässt, dass er Dir Halt gibt? Was müsste sich ändern, damit das ginge?
    Gern geschehen, Ju, freut mich, dass Du den Artikel hilfreich fandest.
    Alles Liebe schickt s.

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