Ich habe einen Selbstverteidigungskurs besucht. Vorher dachte ich, es ist eine vernünftige Entscheidung, wenn auch nicht meine bevorzugte Freizeitbeschäftigung. Es ist mir nicht intellektuell genug, auf Leute einzuschlagen. Am Hinweg dachte ich: „Menschen sind eigenartige Wesen. Gleich bringt eine Vortragende eine Handvoll wildfremde Frauen dazu, ohne jeden Grund körperlich aufeinander loszugehen. Die Welt ist verrückt, nicht ich.“
Brauche ich einen Selbstverteidigungskurs? Ich wäre nicht drauf gekommen. Warum nicht? Meine Erinnerungen zu Attacken im 21. Jahrhundert sind folgende:
- Meine Mutter und ich sind am Krampustag in einem österreichischen Ort unterwegs und ahnen nichts. Da biegen zwei maskierte Gesellen mit Ruten um die Ecke. Meine Mutter hat Angst, schreit um Hilfe, rennt und lässt sich dabei vom Krampus ein paar Schritte in eine Gasse treiben. Der andere Krampus hat mir einen Hieb auf die Beine versetzt, während ich die absurde Reaktion meiner Mutter beobachte. Ich drehe mich um und sage betont langsam: „Na, hamma’s dann?!“ Er erstarrt kurz und rennt weg, als wäre ihm der Leibhaftige begegnet. Meine Mutter sieht das und ist fassungslos über mein Verhalten.* Als ich abends meine Jeans ausziehe, sehe ich die Striemen auf beiden Unterschenkeln.
- Ein katalonischer Taschendieb auf der Rambla möchte an meine Kamera. Ich drehe mich blitzschnell zu ihm um in dieser Menschenmenge und hätte ihn mit einem bösen Blick beinahe getötet. Während ich mich vor ihm aufbaue, ergreift er die Flucht.
- In der St. Petersburger U-Bahn erzeugen drei (oder vier?) Männer eine künstliche Enge, um sich meinem Mann und mir besser widmen zu können. Selten habe ich Hilflosigkeit in den Augen meines Mannes aufblitzen sehen. In dem Moment nähere ich meinen Mund an das Ohr eines dieser Männer und kreische so laut ich kann. Ein sehr hoher, langer Ton – ich kreische immer noch, als alle drei durch die U-Bahn-Türen davon waren. Dann grinse ich. Ich bin sicher, dieser Typ hat bis heute einen Tinitus von mir.
One of my favorite body-orientated ways to build effective fight/flight responses is our local impact center’s model mugging program, in which woman […] are taught to actively fight off a simulated attack. (Bessel van der Kolk 2014)
Das klingt plausibel und ich möchte mir das Erlebnis eines Selbstverteidigungskurses gönnen. Ich möchte nicht unbedingt Techniken lernen, wie man Angreifer auf dreißig Arten k.o. schlägt. Ich möchte eine simulierte Attacke erleben und sehen, was es mit mir macht – abgesehen von der operanten Oberfläche, auf der ich mir sicher bin, dass ich angemessene Gewalt anwenden würde, wenn es notwendig sein sollte. Ich möchte in sicherem Rahmen erfahren, was es unterhalb der operanten Ebene mit mir macht.
Diese Erfahrung konnte ich im Kurs nicht machen. Als ich dort war, überraschte mich der Fun-Faktor, mit ganzer Kraft auf Schlagpölster zu treten, bis man nicht mehr kann. Und dabei zu schreien: „Geh weg!“ Nie hätte ich gedacht, dass ich dort so viel lachen würde. Mehrfach habe ich mich gefühlt wie ein Bulldozer, der eine Kurskollegin mit den Armen von mir weg schiebt… Schritt für Schritt durch den ganzen Raum… bis sie mit dem Rücken an der Wand steht. Ich konnte außerdem üben, meine Grenzen zu wahren: In meiner Historie begründet hatte ich mir vorgenommen, keine Würgeszenen nachzuspielen. Meine großen Mutproben bestehen nicht im Mitmachen, sondern im Pflanzen von Stopptafeln. Dieses Ziel habe ich erreicht. Ich habe vorher nicht geoutet, dass ich seit Kindergartenalter Gewalterfahrungen habe, die mehrere Psychiater als „extrem“ bezeichnet haben. Ich habe nicht gesagt, dass mir vor über zehn Jahren eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert wurde oder gar, dass ich inzwischen eine DIS-Diagnose habe. Die Erfahrung, was abgesehen von der notwendigen Verteidiung im Moment des Angriffs sonst noch so in mir passiert, konnte ich in diesem Kurs nicht machen. Dafür war es zu lustig. Es war zu interessant und zu informativ, was die Theorieteile anging: gesetzliche Regelung und Opferschutzmaßnahmen der Polizei. Die Gruppe war sehr nett, die Vortragende äußerst kompetent – es war zu viel Wohlfühlatmosphäre und zu viel Alltagsteam-Präsenz in meinem Inneren für mein Vorhaben. Ich war in diesem Kurs… glücklich und hoffe auf eine Fortsetzung beim selben Anbieter.
Ich weiß noch nicht, dass ich das bald nachlernen darf… weiterlesen
*Aus heutiger Sicht ist das etwas eigenartig, dass ausgerechnet jene Person, die mich gegenüber Schlägen abgehärtet hat, vom Effekt ihrer eigenen Taten so überrascht ist.
Kommentar? Gern!
Bildnachweis: pixabay / xusenru
Wie toll, dass ihr euch das getraut habt! Wir haben bei solchen Kursen immer etwas Hemmungen, obwohl wir das an sich richtig gut finden.
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Hemmungen wegen der Kurssituation oder dem Schlag-Auftrag?
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Ich glaube eher wegen der Kurssituation an sich. Es ist zwar schon so, dass wir lange auch mit dem „Schlag-Auftrag“ gehadert hätten, aber mittlerweile würden wir uns das sogar zutrauen.
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Ich komme mit Kursen mit klaren Aufträgen gut klar. Ich komme nicht klar mit Qi Gong, Tai Qi, Atem- und Achtsamkeit als Kurs: *weglaufen* weil der Auftrag nicht klar ist. Ich kann den Kontext gut unterscheiden: Schlag-Auftrag in ein Schlagkissen mit grinsendem Menschen dahinter vs. einen Menschen schlagen, der dann verletzt aufstöhnt – das… ähm… nö. Es kam im Kurs oft vor, dass eine die andere gefragt hat: „Hat dir das eh nicht weh getan?“ / „War das zu fest?“ etc. Also das hat shcon gut geklappt, dass man etwas lernt und dabei auf einander achtet. Alles Liebe s.
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Ich habe auch schon mehrfach mit dem Gedanken gespielt, mich aber nie getraut.
Nachdem ich alles gelesen habe…
Du bist ein mutiger Mensch 🍀
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ja, bin ich. 🙂
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Also das Lustigste für mich war (ich habe 6 Jahre in Österreich gelebt): „Na, hamma’s dann?“ Hatte es total vor Augen und Ohren. ;-). Ja passt irgendwie zum Thema Selbstwirksamkeit.
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Eigentlich gehören da noch ° auf 3 der 4 as, aber das kann meine Tastatur nicht. Nicht Ösi-freundlich. 🙂
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In Bayern heißt das „Na, hammas dann jetzad“
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