Ich habe drei gute Gründe, warum ich nach vielen Jahren die Psychiaterin wechseln möchte. Diese Suche fühlt sich anders an als die Therapeutensuche 2017 (011 ff.), denn ich stehe nicht unter Zeitdruck oder Leidensdruck. Ich brauche eine Fachärztin für die Versicherungsbürokratie, für die Ausstellung eines Rezepts einmal jährlich und Zuweisungen zu Ergotherapie und Shiatsu. Keine komplizierten Sachen.
Ich gehe mit drei Vorsätzen ins Erstgespräch:
- Ich gebe als Diagnose eine komplexe Traumafolgestörung an, aber keine DIS. Warum? Weil das für meine Anliegen an die Psychiaterin völlig irrelevant ist und nur Aufmerksamkeit auf sich zieht, die mir unangenehm ist.
- Ich gebe meine Identität nicht preis. Ich habe den Termin per Email unter einem Pseudonym gebucht und kann bar bezahlen. Warum? Die meisten Kontakte beim Psy-Casting bleiben bei einem Termin, weil eine nicht ganz so kleine Menge an „Fachleuten“ sich schon im Erstgespräch für eine komplexe Traumafolgestörung als inkompetent, planlos oder menschlich wenig geeignet outet.
- Das übliche Prozedere Frage-Antwort-Frage-Antwort-Traumamine-Coverstory-Traumamine-Coverstory-Frage-Antwort-Blackout hat in den letzten Jahren zu mehrtägigen Selbstmordvisualisierungen auf Dauerschleife nach Arztbesuchen geführt. Ich will alles, außer das… und wenn wir uns 50 min gegenseitig nur mit den Ohren anwackeln!
Was ist eine Coverstory bei Traumatisierten? … die bietet eine ein bisschen Erkärung für Symptome und Verhalten „for public consumption“ (für den öffentlichen Verzehr). Ich mag das Wort: Denn „to cover“ heißt verdecken, und Coverstorys von Traumatisierten sollen einerseits erkären und gleichzeitig das Leid verdecken.
Dr. S. bietet mir einen Stuhl an und möchte dann meine Daten aufnehmen. „Können wir das bitte ganz am Ende machen?“ versuche ich einen Kompromiss zu meinen Vorsätzen. – „Hm. Nein, leider, denn ich kann sonst gar nichts dokumentieren.“ Eine Minute und 18 Sekunden nach dem Händeschütteln wende ich den Blick zu Boden und bin… weg.
Das ist in meinem ganzen Leben noch nicht oft passiert, dass ich im Beisein von Menschen in einen Modus gekippt bin, der sprachlos und regungslos ist, und noch nie mit einer völlig fremden Person außerhalb einer Klinik. Wie… ungünstig!
Bemerkenswert ist, was nun alles nicht passiert. Ich hatte in den wenigen Minuten keine Gelegenheit, meine universelle Message ans Helferwesen zu platzieren: Wenn ich nicht handlungsfähig wirke, fassen Sie mich unter keinen Umständen an!
- Sie bedrängt mich nicht mit einem Feuerwerk aus Aufforderungen und Fragen.
- Wenn ich nicht antworte, schreit sie mich nicht an;
- sie fasst mich nicht an, wenn ich nicht schnell genug antworte;
- sie zerrt mich nicht am Oberarm weg und
- tatscht mir nicht ans Knie.
Knapp drei Minuten später sagt sie zum ersten Mal etwas. Sie erkärt ein bisschen, was sie sieht und fragt dann, was ich bräuchte, damit ich ein bisschen weniger ängstlich sein könnte. Sie stellt Rescue-Tropfen vor mich hin. Wie süß! Bachblüten von einer Psychiaterin! Wenn ich mich bewegen könnte, würde ich die nehmen. Sie macht mir noch ein paar Reorientierungsangebote, und vollbringt dabei das Kunststück, dass das nicht bedrohlich auf mich wirkt. Folgeleisten kann „ich“ leider nicht. „Ich“ will etwas sagen und kann nicht. Das ist so stressig, dass „ich“ anfange zu weinen. Ich bin mir so peinlich. Mehrfach hole ich Luft und habe den Satz, den „ich“ sagen möchte, klar vor mir. Leider strömt die geschöpfte Luft nur tonlos aus „mir“ heraus.
Ich würde uns beide so gern aus dieser Situation befreien. Nach ca. 15 min kann ich ein Taschentuch nehmen und mein Gesicht abwischen. Dann fällt mir ein, dass ich mir eine Fragenliste geschrieben hatte; wenn man ein konventionelles Erstgespräch verweigert, sollte man einen Plan haben, was man stattdessen anbieten kann. Jede Frage klebt auf einem eigenen Postit in meinem Notizbuch. „Ich“ kann ein Postit ablösen, auf dem steht: „Möchten Sie mir ein bisschen von sich erzählen?“ und klebe es auf den Tisch vor mir. Ich kann es ihr nicht geben oder sonstwie eine Bewegung in ihre Richtung machen. Sie nimmt es und liest die Frage laut vor. Dann beginnt sie zu erzählen… vom Haus in dem „füchterlich verschlafenen“ Ort in den Bergen, in dem sie aufgewachsen ist. Sie erzählt von ihren Eltern, ihren Geschwistern, ihrer Schulzeit. „Sie“ aus ∑ich hört aufmerksam zu und beruhigt sich darüber. Es ist eindeutig kein Erwachsenenerleben, das da zuhört. Sowie die Erzählung beim Medizinstudium angekommen ist, rauschen die Wörter nur noch an ihr vorbei. Sie genießt eher die Sprachmelodie als den Inhalt. Mich aus ∑ich hätte schon interessiert, wie sie ihre Ausbildung empfunden hat und welche Qualifikationen sie hat.
Ich bin besser geworden, „sie“ aus ∑ich nicht mit allen Mitteln in die Flucht zu schlagen. Nichts hat sie jemals so schnell so gut beruhigt wie diese Erzählung vom Dorf in den Bergen – es waren nur wenige Sätze, dennoch…
Erst jetzt, wo ich das aufschreibe, frage ich mich: Wie hat sie diese Erzählung so gut treffen können? Sie spach nicht wie mit einer minderbemittelten, gestörten Person (wie ich mich in der Situation empfunden habe); sie spach nicht mit einem Kind (das sich verkleidet in einem Erwachsenenkörper vor sich hatte); sie sprach nicht wie in einem Vorstellungsgespräch, in dem man sich möglichst gut darstellt (in dem sie sich befunden hat); es war einfach genau richtig.
Dissoziative Zustände unter den Augen von fremden Menschen – kennst Du das?
Übermorgen lesen, wie der Termin weitergeht? Passwortgeschützt lesen.
Könntest du noch etwas mehr zu den Coverstorys schreiben? Ich konnte den Begriff, bzw. die Erklärung gleich auf mich übertragen, aber ich bin mir unsicher. Meinst du damit, dass man nur die nicht ganz so schlimmen Sachen erzählt? Oder das alles so darstellt, als wäre es gar nicht so schlimm? Ich mache das wohl oft und bin da gerade erst dabei das als Problem zu erkennen (weil die, die unbedingt gesehen werden wollen, dann nicht gesehen werden, keine Hilfe bekommen etc. und andere glauben, man hätte viel zu viel erzählt).
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Hallo, die Definition von Cover Story ist wie gesagt: Symptomerklärung nach außen, ohne sich emotional sehr involvieren zu müssen. Ich kenne Menschen, die sagen: „Ich bin Überlebende von Missbrauch in der Kindheit.“ Ich sage immer mal wieder: „Ich hatte eine PTBS nach einem Trauma im Erwachsenenalter.“ Da muss ich gar nicht genau sagen, was mir passiert ist, aber ich erkläre damit meine Probleme. Ich muss mich dann nicht emotional verstricken. Wenn eine Gegenfrage kommt: „Was genau ist denn passiert?“ Dann sage ich: „Darüber möchte ich nicht sprechen.“ Fertig. 🙂 Über meine Symptome sprechen braucht auch recht viel Coverstory. Ganz lieben Gruß, s
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Oh wow! Was für eine Herausforderung für beide Seiten, wenn nicht gesprochen werden kann.
Mich interessiert die Fortsetzung. Kannst du mir das Passwort schicken? tagebuchhierundjetzt@web.de
Hoffentlich ist es ein kompliziertes Passwort, dass ich dann schnell wieder vergesse?, weil ich mich vorm Lesen der meisten passwortgeschützten Beiträge schützen möchte.
Grüße Sophie
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Hallo Sophie, Du müsstest bitte auf den Link klicken und Dich anmelden auf der Passwortseite. Das wird nämlich automatisch verschickt, ich mache das nicht händisch. Danke und lg s
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Achsooo 🙂
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Das ist ja mal ne gute Reaktion. Das ich gar nix mehr sagen kann hab ich nicht, aber das dann da wer sitzt die kein Blickkontakt mehr kann, nur noch stichwortartig antwortet und den Kontext gar nicht hinkriegt und erschreckend unterwürfig. Sowas hängt mir tagelang nach, weil ich immer noch nicht wirklich kapiere was dann eigentlich läuft und dieses Opferverhalten hervorruft. LG Daritestonia
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Ja, gestern, während der Arbeit und es war grottenscheiße. So Scheiße, dass die, deren Job das ist, nie wieder hingehen wollen vor Scham und Selbsthass.
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Oh nein. *schreck* In der Arbeit – Hölle! Ich hätte auch Selbsthass, wenn das passieren würde. Ich kann das voll verstehen. Trotzdem sind Scham und Selbsthass über solche „Zustände“ unter Beobachtung im Zeitverlauf weniger geworden. Mein Exfreund war die erste Person, die „sowas“ gesehen hat, und damals war das ganz schlimm – eigentlich wollte ich ihn aus meinem Leben entfernen, deswegen. Bei meinem Mann war das auch extrem schlimm, aber der hat besser reagiert als mein Exfreund, sodass ich ihn nicht auf nimmerwiedersehen verabschieden musste. In den letzten 2 Jahren haben das mehrere Menschen gesehen, die meisten Fachkräfte, die Mehrheit von denen hat es sicherlich nicht erkannt als das, was es ist. Es ist natürlich immer noch schrecklich, aber nciht mehr sooooo schlimm wie früher, aber ich rede hier ja von Fachleuten, Klinikkontext, nciht Arbeit.
Alles Liebe s.
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