216 keine Wunder: Gehirnwäsche & Festhalten der Marschrichtung

Ich bin schwer komplex traumatisiert und lebe täglich mit den Folgen. Mit Blick in den Diagnosekatalog für Traumafolgestörungen hält man mich vermutlich für „ziemlich typisch.“ Mein Blog ist voll vom Tanz um Schlafstörung, Dissoziation & Co. Heute will ich dankbar sein, dankbar für den Kelch, der an mir vorübergegangen ist.

Was bisher geschah. Meine erste Therapiestunde war vor ca. 15 Jahren, in denen ich die Heilsversprechen meiner Behandler selbstverständlich geglaubt habe. Es war nicht schwer, eine vorbildliche Patientin mit eiserner Disziplin und klarem Fokus zu sein, denn ich war diejenige, die sich am dringendsten Symptomfreiheit wünschte. Statt dem Eintreten der Heilung, hat man meine Traumadiagnosen seitdem eskaliert: Begonnen hatten wir bei einer „Posttraumatische Belastungsstörung nach Monotrauma im Erwachsenenalter,“ angekommen sind wir nun bei einer „dissoziativen Identitätsstörung„. Ich möchte meine Energie nicht weiter für Heilung ver(sch)wenden, die vielleicht irgendwann kommt, sondern mehr für mein Heute und ich möchte den Mut haben, die Maßnahmen, die im Heute sicher helfen, auch umzusetzen – gegen Widerstände, die bestimmt kommen werden. Zum ersten Artikel dieser Serie.


Die meisten Menschen mit Traumafolgenstörung haben wenig Selbstwert: Sie erleben sich selbst als beschädigt, defekt, weniger wert als andere Menschen. Ich weiß, dass Gewalterfahrungen mich beschädigt haben.

Trotzdem halte ich mich (meistens 🙂 ich erlebe hier auch meine Einbrüche 027) als Mensch für anderen ebenbürtig und auf Augenhöhe. Ich halte mich für einen Menschen Stärken und mit Grenzen. Wie jeder andere Mensch darf auch ich lernen, wo meine Grenzen sind und wie ich innerhalb ihrer bestmöglich leben kann. Bei anderen besteht eine Grenze in ihrem IQ, einer chronischen Krankheit oder Sehbehinderung, außergewöhnlichem Ungeschick in sozialen Situationen, einer alten Verletzung am Bein.

Stärken und Schwächen sind ohnehin keine statische Angelegenheit: Wenn man Formel-1-Weltmeister werden will, sind Risikobereitschaft und Leidenschaft für Geschwindigkeit Voraussetzung. Später können einem diese außergewöhnlichen Stärken auf einer Skipiste das Leben kosten.

Dort, wo Gleichdiagnostizierte eine Selbstwertmacke haben, habe ich eine andere: Ich glaube grundsätzlich nichts mehr bzw. suche mir genau aus, was ich glaube und was nicht. „Es ist durch und durch bemerkenswert, dass Sie den Millionen Abwertungen Ihrer Mutter nicht geglaubt haben. Ihr Selbstwert ist… ein Wunder! Alle anderen Kinder müssen das nämlich glauben,“ sagte so oder so ähnlich jene Therapeutin zu mir, die die meisten Therapiestunden mit mir verbracht hat. Was hat mir geholfen, die Verwünschungen meiner Mutter nicht zu glauben?

  • „Du bist sowieso zu blöd für alles!“ fand meine Mutter. Ich habe mit Auszeichnung die Schule abgeschlossen, als erste in meiner gesamten Verwandtschaft die Zuslassung zur Universität erhalten, und dort unter der Mindeststudienzeit abgeschlossen, während ich mehrere Sprachen gelernt habe und durchgehend nebenher gejobbt habe. Seitdem kann ich konstatieren: Meiner Mutter irrt sich in wesentlichen Punkten – immer wieder. Ich hatte immer schon ein recht ausgeprägtes Trotzdem-Denken, mit dem ich Dinge beweise(n muss?). Das war im Leben oft hilfreich.
  • Ich habe anderen Menschen auch zugehört, nicht nur meiner Mutter. Während meine Mutter mich mit zu-blöd-auf-Dauerschleife beschallt, finden meine Lehrer, dass ich einiges ganz gut hinkriege. Ich habe den Unterschied zwischen Meinung und Fakt früh gelernt: Meine Mutter findet das eine, die Mehrheit der Menschen findet jedoch…
  • Soziale Selektion. Ich war als Kind gut darin, mich an Menschen zu heften, die mir wohlgesonnener waren als meine Mutter: erst meine Großmutter, und nach deren Tod eine Nachbarin, die ich ganz offen als meine Wahl-Mutter bezeichnete. Wenn ich diesen Menschen von der nächsten Runde zu-blöd-Schallplatte erzählt habe, haben sie immer wieder gesagt: „Hör nicht hin!“ oder „Sie redet Unsinn!“ Erst sehr viel später habe ich verstanden, dass ich mir jene Bewertung aussuchen darf, die mir besser gefällt.
  • In der Pubertät erfand ich etwas, das ich heute Selbstgehirnwäsche nenne. Ich stolperte damals über Liedtexte, mit denen ich mich stark identifizierte und hörte sie oft. Möglichst öfter als meine Mutter! Damit war ich ein Stück unabhäniger von anderen Menschen beim Neutralisieren negativer Botschaften. Es dauerte nicht lang, bis daraus ein bewusster Prozess wurde: Genau dann, wenn meine Mutter mich anbrüllte: „Du hast zu tun, was ich sage!“ tat ich zwar, wie mir geheißen, und ließ den Schaden von Pia Douwes direkt danach in mein Zimmer begrenzen – mit „Ich gehör nur mir!“ aus Elisabeth. Musical und meine Entscheidung, darüber allabendlich einzuschlafen über Jahre, ist zu vermutlich dafür verantwortlich, dass ich „bei mir“ bleiben konnte.
  • Jemand, die mir flehentlich versichert, dass sie mich über alles liebt, und am selben Tag schlägt, an den Ohren durch die Wohnung zerrt und mich dabei als „ärgstes Schwein“ beschimpft… nein, per Logik habe ich als Grundschulkind erkannt, dass entweder die Liebe gelogen ist oder das Schwein. Zehn Jahre später entschied ich mich für die dritte Möglichkeit: Beides ist gelogen und meine Mutter hat weder Ahnung vom Leben, noch von mir. Eine meiner meistgehörten Selbstgehirnwäsche-Songs war Alanis Morissettes Perfect: „We will love you just the way you are, once you are perfect,“ beschrieb mein Elternhaus recht treffend, fand ich als Teenager. Die Logik sagte mir: Ich bin ein Mensch und werde folglich niemals perfekt sein. Wenn meine Mutter mich nur in einer perfekten Version lieben kann, wird sie mich niemals lieben. Es macht also überhaupt keinen Sinn, um die Gunst meiner Mutter zu werben – Sinn mancht lediglich, die Anzahl der Ohrfeigen zu minimieren, aber nichts darüber hinaus. Ich verlieh ihr gedanklich den Sheriff-Stern für mein Leben, für den ich Liebe beiderseitig ausschloss.
  • Nach jahrzehntelangem Grübeln über meine ungesunden und gesunden Glaubenssätze bin ich zum Schluss gekommen: Jeder Mensch darf sich seine Glaubenssätze aussuchen! Behalte, was entweder wahr hilfreich ist, hilfreich ist oder sich gut anfühlt, und trenne dich ohne Bedauern vom Rest! Leichter gesagt, als getan – darüber schreibe ich demnächst…
  • Meine jüngstgelernte Strategie möchte ich abschließend erwähnen. Als ich drei Monate meine Familie inklusive schulpflichtigem Kind und meine Arbeit hinter mir gelassen habe, um mich um meine Traumafolgestörung in einer Klinik zu kümmern, war ich innerlich ziemlich zerrissen. Meine Therapeutin dort ließ mich deswegen eine „Rede zur Lage der Nation“ aus wenigen Sätzen schreiben, die ich täglich morgens lesen sollte, um meine Marschrichtung nicht aus den Augen zu verlieren. Warum bin ∑ich hier? Warum ist das eine gute Chance? Was kann ich tun, damit ich mich hier einigermaßen sicher fühle? Das Ergebnis siehst Du im Beitragsbild. Ich hatte auch früher auch schon meine Marschrichtung (für alle aus ∑ich) schriftlich festgehalten, aber noch nie so kurz, klar und mit täglichem Lesen für Monate. Sollte es nochmals nötig werden, würde ich diese Strategie erneut verwenden. Voraussetzung für diese Strategie ist: den Fokus halten können, was mit einer Traumafolgestörung manchmal echt schwierig sein kann!

Wie kannst Du Glaubenssätzen wie „ich bin mit anderen Menschen auf Augehöhe“ glauben? Wie kannst Du den Fokus halten auf ein Ziel, das Du Dir gesteckt hast? Kommentar? Gern!

 

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11 Kommentare Gib deinen ab

  1. daritestonia sagt:

    Mit anderen Menschen auf Augenhöhe sein–in der Theorie denke ich, na klar bin ich das. Das Problem ist aber das ich es meistens nicht fühlen kann, sondern das sich da ganz andere Wahrnehmungen in mich reinschleichen die mir was ganz anderes erzählen. Da kann ich glauben wollen was ich will, so funktioniert das nicht, leider. Und sowas wie positive Affirmationen lösen Aggressionen und noch mehr Abwehr aus.

    Ziele verfolgen. Hm. Das ist richtig schwer. Weil es irgendwie so ganz viele verschiedene Ziele sind und ich das einfach nicht in mir klar kriege, was davon jetzt das richtige ist. Oder das wichtigste. Manches widerspricht sich auch. Steht sich gegenseitig im Weg. Mal wird die eine Richtung verfolgt, dann plötzlich ne andere. Oder es wird einfach vergessen. Und Wochen später erinnert man sich plötzlich wieder und ärgert sich.
    Am wichtigsten, habe ich gemerkt, ist Zeit lassen. Und bloss keinen Druck machen, da geht’s dann eher 2 Schritte zurück.

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    1. Hallo daritestonia, Ziele verfolgen konnte ich immer gut. Ich darf gerade lernen, was Du in Deinen letzten Sätzen schreibst. Dass Dinge Zeit dauern dürfen und nicht maximal-effizient erledigt werden sollen. Ganz liebe Gruß, s.

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  2. Pollys sagt:

    Liebe Sunrisa, also erst mal hat mir Dein Beitrag seeeeeehr gefallen. Besonders, dass Du auch ein Trotzdem-Denker bist! Und auch der Satz, jeder Mensch darf sich seine Glaubenssätze selber aussuchen. NATÜRLICH! Und das heißt für mich, man muss die alten Glaubensätze erst mal untersuchen, wo sie überall im Leben mitmischen (Es gibt ein paar dabei, die gar nicht so schlecht sind, habe ich festgestellt aber die meisten sind Schrott). Und dann muss man die loswerden. Und nicht nur das, man muss sie *entmachten*, d.h. einen Gegen-Glaubensatz finden, der den alten neutralisiert. Ich denke Du weißt wie ich das meine.
    Zur Frage: Glaubenssatz auf Augenhöhe glauben – also ich spür das ob das echt ist bei anderen und nicht zu vergessen ob auch ich mit dem anderen auf Augenhöhe bin. Gottseidank spüre ich das.
    Zur 2. Frage: Wie kann ich den Fokus halten. Also bei mir ist das in den letzten Monaten eigentlich so: Seit ich erkenne (indem ich vielen weiseren Menschen zugehört habe) ist das eigentlich leicht geworden. Ich wähle ein bis 2 mir wichtige Affirmationen – Vorhaben aus und wende an, wie das auf meinen zur Zeit empfohlenen Verstärkungsvorschlägen (z.B. L. Hay – aber auch andere) zu finden sind (Ich habe auch festgestellt, dass man sie nicht einfach übernehmen kann, sie müssen stimmig sein für einen selbst, ich musste die von der Hay umschreiben bzw. zuschreiben, dass sie für mich passten). Die Affirmationen (derzeit ist eine, dass ich liebenswert bin und ich mich wertvoll fühle und dass ich mich von den GS, die man in mich gepflanzt hat, lösen werde), die ich als am Wichtigsten heraus gesucht habe, hängen hier überall und ich lese sie nicht nur, ich spreche sie, male sie, füge sie fortwährend ein wo es nur geht (meditiere darüber, rede mit anderen darüber, schreibe im Blog hierüber…). Ich nehme es mir vor und habe mich entschieden, es täglich durchzuhalten. Wenn ich mal einen Tag abgelenkt bin, dann mache ich am nächsten Tag einfach weiter – ohne mich zu beschimpfen… und ich glaube so fest ich kann daran, dass es wirken wird.
    Ach ja, und ich finde es ganz besonders wichtig, wenn man schon mal erkannt hat, dass destruktive GS von unseren Eltern, nichts anderes sind, als Gehirnwäsche und Hypnose und dass wir eine Wahl haben und sie ändern können. Es sind nur Gedanken, und keine Wahrheiten und Gedanken kann man ändern.
    Sonnige Grüße
    Melinas/Pollys

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    1. Hallo Melinas/Pollys, vielen herzlichen Dank für Euren Text! Da steckt so viel drin, was ich für mich 100% unterschreibe! Alles Liebe s.

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  3. Pollys sagt:

    Sorry Sonrisa – ich hab versehentlich Sunrisa geschrieben….

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    1. nicht schlimm, fühle mich auch damit angesprochen. 🙂 lg

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  4. lamorada sagt:

    spannende fragen…

    positive glaubenssätze glauben – schwierig für viele hier und bisher wurde es verweigert mit denen zu arbeiten – denn es gibt hier im innen fein austarierte waffenstillstände und zum teil wohl sogar sowas wie stillschweigende kooperationsvereinbarungen mit denen ich auch nur in teilen etwas zu tun habe… ist verständlich was ich meine *grübel*

    und fokus halten – schwierig, wobei der fokus auf bestimmte bereiche klappt, ich vermute in den bereichen in denen allen (davon betroffenen) beteiligten hier klar geworden ist dass das für alle einen mehrwert hat… wichtigstes beispiel ist wohl: alle hier „packen mit an“ um psychatrie-aufenthalte zu verhindern – denn die würden niemandem hier einen mehrwert verschaffen und egal welche agenda unterschiedliche „ichs“ hier verfolgen: das wäre etwas das für alle ein rückschlag in ihrer jeweiligen agenda ist.

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    1. Hallo lamorada, hm. Interessant. Ich denke, ich würde mich für die Beibehaltung von Waffenstillständen entscheiden und die Auseinandersetzung mit Glaubenssätzen auf später vertagen. Mein erster Schritt war wir gesagt: Begreifen, dass Meinungen und Fakten zwei völlig verschiedene Dinge sind, und dass sich jeder aussuchen darf, was er glaubt. Ich sage das inzwischen ganz bewusst: „Nein, das gefällt mir nicht, das andere gefällt mir besser!“
      Super, Ihr habt ein gemeinsames Ziel! Ich finde, das erste ist das Schwierigste. Wie bei allem macht Übung den Meister, oder?
      Alles Liebe schickt s.

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  5. lamorada sagt:

    huhu sonrisa

    ich glaube da haben wir evtl (auf unterschiedliche arten) denselben ansatz denn hier war es glaube ich das begreifen das es eben bei verschiedenen die hier so mit dabei sind ganz unterschiedliche meinungen und fakten gibt.

    damit meine ich das es von mir anmaßend wäre sozusagen „post its“ mit neuen glaubenssätzen nach innen zu geben und zu sagen „so, und das ist das was jetzt von allen geglaubt wird“… das habe ich mal versucht und das echo war eine beeindruckende machtdemonstration verärgerter anteile – das läuft mit waffenstillständen und kooperationsvereinbarungen offensichtlich besser auch wenn ich nicht immer bekomme was ich will 😉

    alles liebe zurück

    lamorada

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    1. Hallo,
      OMG, nein, das habe ich nicht gemeint: Post-its nach innen geben mit neuen Glaubenssätzen. Das würde bei mir sicher nicht funktionieren, und nur Stress machen…
      lg s

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  6. lamorada sagt:

    hihi aber das meinte ich doch…

    die gemeinsamkeit (oder überschneidung) die ich gesehen habe bezog sich auf

    „Mein erster Schritt war wir gesagt: Begreifen, dass Meinungen und Fakten zwei völlig verschiedene Dinge sind, und dass sich jeder aussuchen darf, was er glaubt.“

    dein „jeder“ im folgesatz bezog sich für mich auf das außen (also andere menschen) – während mein erster wichtiger schritt war das für die anderen im innen anzuerkennen.

    glg lamorada

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