Wikipedia sagt, Psychotherapie ist die Gesamtheit der psychologischen Verfahren zur Heilung oder Linderung von Störungen im psychischen Bereich, in den sozialen Beziehungen, im Verhalten oder auch in bestimmten Körperfunktionen. Ich bin ziemlich Psychotherapie-erfahren und finde: Psychotherapie kann einen wertvollen Beitrag leisten etwa in der Krisenintervention zur Reduktion der Suizidrate (#1), in der Psychoedukation, wenn ein Problem zur Pathologie wird (#2), als zwischenmenschliches Coaching (#3) oder um ungesunde Glaubenssätze loszuwerden (#4).
Funktion #5: Sozialer Anschluss. Zuletzt möchte ich noch einen Punkt anfügen, der mich selbst weniger betrifft, aber von dem ich mir gut vorstellen kann, dass er unverzichtbar hilfreich sein kann. Wenn man nicht oder kaum dazu in der Lage ist,
- zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen und aufrecht zu erhalten oder
- mit Freunden oder einer vertrauten Person über seine Probleme und auch seine psychische Erkrankung zu sprechen,
dann kann eine Psychotherapeutin ein toller erster Übungsmensch sein, um diese Basis des Menschseins nachzulernen, bis man das auch mit unbezahlten Menschen hinbekommt. … und wirklich nur so lange. Ich finde wichtig, dass eine Psychotherapeutin sich als einzige Kontaktperson so rasch wie möglich selbst wegrationalisiert, anstatt sich in der Position der Unverzichtbarkeit zu sonnen.
Eine bezahlte Helferin darf nur Anleitung zum sozialen Anschluss sein, aber nicht jeden (tieferen) sozialen Kontakt ersetzen und diese Abhängigkeit als Heilung feiern.
Ich hatte mein ganzes Leben lang mehr soziale Angebote, als ich wahrnehmen konnte oder möchte. In jedem Lebensabschnitt hatte ich Freunde, mit denen ich über alles reden konnte, und seit über 20 Jahren lebe ich Seite an Seite mit meinem Lieblingsmenschen. Mit dem Thema der psychischen Erkrankung hat es dennoch eine Weile gedauert, bis ich mit Freunden reden wollte. Es hat Information über Traumafolgestörungen von Therapeuten gebraucht, und bis dahin war die Therapeutin meine Ansprechpartnerin von dem, was ich für ein gesellschaftliches Tabu hielt. Inzwischen habe ich in meinem engsten Freundeskreis einen so offenen Umgang bezüglich meiner Symptome wie über Urlaubserlebnisse oder das Wetter. Vier Freundinnen habe ich sogar die Diagnose der dissoziativen Identitätsstörung (früher multiple Persönlichkeitsstörung) mitgeteilt – und ich bereue nichts. Im beruflichen Umfeld bleibt ein Outing für mich weiterhin vollkommen ausgeschlossen.
Funktion #6. Themen für Therapeuten. Aus persönlicher Erfahrung kann ich sagen, dass ich eine einzige Fachfrau hatte, mit der ich über Traumainhalte wahrlich freiwillig gesprochen habe. Psychotherapeuten sind für mich persönlich die geeigneteren Gesprächspartner als meinen Ehemann, wenn es darum geht, wie ich es erlebt habe, dass im Kleinkindalter Serienvergewaltigungen normaler Tagesbestandteil waren. Trotzdem wünsche ich mir auch da eine Therapeutin als Übungsperson, bevor bereit bin, mich mit sehr sorgfältig gewählten Mitmenschen darüber auszutauschen, wenn ich das für sinnvoll für mich halte.
Dass ich meinen Lebensmenschen betreffend Traumainhalten „entlastet“ habe und sie in professionelle Hände legen wollte, war ein zweischneidiges Schwert. Ich erinnere noch, dass ich nach Therapieende zu meinem Erwachsenentrauma wieder neu lernen musste, meinen Mann wieder mehr in mein Gefühlsleben einzubeziehen.
Zusammenfassend mag ich festhalten: Psychotherapie kann die Lebensqualität verbessern, indem sie einen
- ungesunde Glaubenssätze (die jeder Mensch hat, manche mehr, manche weniger) erkennen lässt und helfen kann, sie zu ändern,
- Hilfestellung geben bei zwischenmenschlichen Themen,
- Einsamkeit reduzieren kann
– und zwar bei jedem Menschen, egal ob dieser „offiziell Pathologien aufweist“ oder nicht. Was Psychotherapie bei mir in 15 Jahren jedoch nicht erreichen konnte, ist Symptomfreiheit (oder auch nur -linderung) meiner Traumafolgen: Schlafstörung, Alltagsamnesien, Schmerzzustände, Flashbacks etc. Weiterlesen…
Hat Dir Psychotherapie geholfen, den Kontakt zu Menschen abzubrechen, die überhaupt keinen positiven Impact auf dein Leben hatten? Hat sie Dir geholfen, eine zerrüttete, aber wertvolle Beziehung wieder herzustellen? Konntest Du schon jemals einen ungesunden Glaubenssatz lostlassen – und was hat das konkret verändert?
Meine Thera hilft mir grade sehr. Allerdings ist sie ein Teil von etwas Ganzem, dazu gehören nützliche Videos und ganz besonders mein bester Freund und dann, endlich, diese innere Bereitschaft die jetzt da ist, wirklich mal bewusst diese verdammten Glaubenssätze auf emotionaler Basis zu hinterfragen und bewusst alte Gefühle zu identifizieren. Es gehört alles zusammen. Ich habe aber unglaubliches Glück, diesen guten Freund gefunden zu haben. Sowas ist echt wichtig. Die 60Min pro Woche allein wären ansonsten etwas wenig. Ich denke, meine Therapie hat vor allem geholfen, meinen Geist dafür zu öffnen, meine inneren Anteile zu erkennen und sie jetzt hoffentlich langsam zu integrieren, ebenso wie meine Vergangenheit. Das allerdings kann die Therapie nicht für mich machen, das muss ich…
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… hört sich an, als hättest Du die richtigen Menschen rund um Dich. Das ist wunderbar. Ich wünsche Dir alles, alles Gute weiterhin… lg s.
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Danke dir ♥ Dir auch alles Gute!!
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