… in einem Menschenleben ist die Liebe, hört man immer wieder. Ist Liebe diese eine Sache, ohne die man kein glückliches Leben führen kann? Ist sie der interpersonelle Kleber, der die Menschheit zusammenhält? Mit einem Blick in Annalen der Menschheit wirkt Liebe mehr gefährlich als heilsbringend: Goethes Werther in der Literatur, der Rosenkrieg auf der Kinoleinwand und viele Opern drehen sich um die Liebe und am Ende gibt es keine Überlebenden.
Jede Liebesgeschichte ist eine Tragödie, wenn man lange genug wartet.
Waterford in Report der Magd (Staffel 1, Folge 5)
Liebe wird oft verwechselt, vorgetäuscht oder auseinandergedröselt. Verwechselt wird Liebe mit dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit oder körperlicher Nähe. Vorgetäuscht wird Liebe manchmal aus dem Wunsch nach finanzieller Absicherung oder nach Sex. Liebe und Bedürfnisbefriedigung liegen offenbar nah aneinander. Liebe und Abendteuer sind gleichermaßen assoziiert wie Liebe und Stabilität – dabei sind das Gegensätze. Die alten Griechen hatten vier verschiedene Wörter (eros, philia, storge, agape) für das, was wir im Deutschen in einen Topf werfen, und wir stimmen wohl alle zu, dass wir unseren Ehepartner auf andere Art lieben wie den Familienhund. Psychologen teilen ein in Empfindung, Wahrnehmung, Emotion, Gefühl, Stimmung, Gedanken, Entscheidung und Bedürfnis – und sind sich selbst nicht sicher, was davon nun Liebe ist oder nicht ist. Vielleicht ist Liebe zu kompliziert, um von Heerscharen an Wissenschaftern erfasst zu werden?
Es gibt eine verbreitete Volksweisheit über die Liebe, die ich für völlig falsch halte: nämlich dass Liebe und Schmerz zusammen gehören. Mein Mann und ich lieben uns seit über zwanzig Jahren – und niemals hat seine Liebe mich geschmerzt. Schmerzhaft waren jene Zeiten, in denen wir tausend Kilometer getrennt waren. Meinem Kind möchte ich mit auf den Lebensweg geben, dass es keine Liebe ohne Hindernisse gibt – Hindernisse ja, Schmerz nein.
Im Bekanntenkreis habe ich immer wieder mitbekommen, wie Angst vor Einsamkeit Menschen in die Arme der größtmöglichen Idioten laufen lässt. Vielleicht passiert das auch aus einem Gefühl der eigenen Unvollständigkeit und Bedürftigkeit heraus… befeuert durch Sprichwörter wie: „Jeder Topf braucht seinen Deckel.“ Die Reihenfolge kann nicht anders sein als: Vervollständige dich erst selbst, und als ganzer Mensch sei offen für andere ganze Menschen. Wer sich nur als halber Mensch fühlt, kann oft keine Grenzen setzen – die sind aber wichtig für eine Beziehung. Ich war mein Leben lang überzeugt davon, dass ich allein besser dran bin als mit dem falschen Partner – und diese Grundhaltung hat mich vor Unglück bewahrt.
„Liebe ist die endlos wiederholte bewusste Entscheidung für einen bestimmten Partner,“ las ich letztens und war nicht sicher, was ich davon halten soll. Verliebtheit passiert! Vermutlich hat jeder Mensch sich mal bei einer Schwärmerei für jemanden ertappt, die sachlich betrachtet unpassend war. Es ist eine Entscheidung, was man damit macht: ob man einen Kontakt abbricht oder Hindernisse überwindet. Wenn man eine Ehe führt oder gemeinsam Kinder erzieht, manifestiert sich Liebe in einer Million Entscheidungen gegen Ärger: nein, ich hab auf einer Geschäftsreise keinen one-Night-Stand, ja, ich verbringe mindestens zwei Abende pro Woche ganz bewusst Zeit mit meinem Alltime Lover, nein, ich gebe nicht über 300 EUR aus, ohne mit meinem Mann drüber zu sprechen (ich dürfte das, und ich hab auch genug selbstverdientes Geld, aber ich will vorher lieber drüber sprechen!), ja, ich lege die Socken meines Mannes zusammen, weil wir ein Team sind. In meinem Leben war es die bewusste Entscheidung meines Mannes, weiter bei mir zu bleiben, obwohl ich mehrfach in der Akutpsychiatrie war – das ja, aber vor vielen Entscheidungen füreinander war da ganz viel … Liebe, nämlich funkensprühende, selbstentzündete! Erst war da die Liebe, und dann erst die Socken.
Wenn Liebe so oft verwechselt wird mit anderen Dingen – kann sie dann das wichtigeste Gefühl sein? Vermutlich brauchen die meisten Menschen bis mindestens Mitte zwanzig, um eine vage Idee zu entwickeln, wie Liebe sich anfühlt… das sie dann damit abgleichen müssen, wie sie denken, dass sie sich anfühlen sollte.
∑ich
Nach all diesen Überlegungen finde ich… ich weiß nicht… ich brauche etwas Einfacheres als Liebe. Meinem Kind würde ich nicht raten: „Sei offen zu sein für die Liebe – allzeit und überall, denn Liebe ist das Allerwichtigeste!“ Soll man Liebe dort suchen, wo Spaß ist? Oder Abenteuer? Oder Bequemlichkeit?
Ich finde, Liebe soll man gar nicht suchen, aber man könnte sich dort ein bisschen niederlassen, wo man Trost findet.
Trost ist dort, wo man auch mit Verletzlichkeit und Unperfektion hin kann. Trost fühlt sich warm an und verändert etwas – auch wenn man gerade traurig oder wütend ist. Im Trost ist man einander zugewandt, ohne dass einer eine Verantwortung übernimmt, die er gar nicht tragen kann, will oder sollte. Oberflächlichkeit und Trost sind unvereinbar. Trost hat keine vier verschiedenen Konzepte im Altgriechischen und wir brauchen nicht dreißig Jahre Erfahrungen damit, um ihn zu erkennen. Meinem Kind also würde ich raten: Wenn Du Liebe suchst, halte Ausschau nach Trost.
Menschen mit komplexer Traumafolgestörung werden in der „Fachliteratur,“ die über sie geschrieben wird, oft beschrieben, als hätten sie ein noch komplizierteres Verhältnis zur Liebe als es Menschen ohnehin schon haben. Wir hätten Probleme mit unserer Identität, mit Vertrauen, mit Angst und Depression – das alles erschwert Liebe entscheidend. Wir könnten Sex und Gewalt nicht trennen, wir könnten ungesunde Abhängigkeiten und Liebe nicht unterscheiden, und das brächte uns in die Bredouille. Dennoch haben die meisten zumindest einen Rohentwurf für das Konzept vom Trost. Das auszubauen, halte ich für heilsam.
Wie kannst Du als komplex taumatisierte Person wahre Liebe von einer toxischen Beziehung unterscheiden? Welche Mischung aus Empfindungen, Wahrnehmung, Zwischenmenschlichem, Bedürfnisbefriedigung Kommentar? Gern!
Mehr Infos zum Thema:
TED – Emily Nagoski: How coulples can sustain a strong sexual connection for lifetime
TED – Katie Hood: The difference between healty and unhealty love
Mein Mann und ich sind seit 48 Jahren zusammen. Es gab Höhen und Tiefen, mal mehr Nähe, mal mehr Distanz. Jeder von uns weiß, dass er auch allein im Leben klar kommen würde- es aber nicht möchte. Wir haben uns füreinander entschieden und müssen das nicht jeden Tag aus Neue tun.
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Das ist schön zu lesen. ❤ Der letzte Satz ist so wahr!
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Ich weiß nicht, ob es das wichtigste Gefühl ist. Nein, anders: Ich weiß nicht, ob ich überhaupt „die Liebe“ kenne. Wenn ich zurückblicke, sehe ich (wenn überhaupt): Abhängigkeit, Bedürfnis nach Nicht-Alleinsein, nach Sicherheit, nach Geborgenheit, nach einer starken Schulter zum Anlehnen (alle diese Bedürfnisse wurden nicht oder nur kurzzeitig befriedigt). Sehnsucht nach Nähe, aber wenn ich sie bekomme, habe ich Probleme, überhaupt im Moment zu bleiben, überhaupt im Körper zu bleiben. Sehnsucht danach, endlich einmal ICH sein zu dürfen in einer Welt, für die ich zu viel bin, für die WIR zu viel(e) sind. Nein, ich habe keine Ahnung, was eigentlich Liebe ist. Meine Geschwister scheinen sie gefunden zu haben – aber ich … gefühlt gibt es für mich keine Liebe. Wir leben weiterhin mit unseren Masken, denn ohne sie würden wir ja doch nur fallen gelassen, verlassen, allein gelassen. Ich hab gerade ein Youtube-Video gesehen, in dem es um „Lügen“ im Traumagehirn ging, auf Platz 1: Es gibt keine Liebe. Ja, ich sehe die Liebe bei anderen, ich kann mich für diese Menschen freuen. Aber ich kann sie bei mir nicht spüren, geschweige denn, dass ich diese Art von Liebe auf mich bezogen fühle.
Ich freue mich für euch, dass es für euch diese Liebe gibt ❤
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Ich habe Dich gelesen. Ich bin traurig… und hoffe, dass sich die Liebe noch zeigen wird in ihren vielen Facetten. lg s.
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Danke ❤
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