163 Notfall-Skills: wegskillen vs. beruhigen

„Derzeit würde ich bei zu viel Kinder-Zuständen so viel Angst bekommen, dass ich in die Akutpsychiatrie gehen müsste. Auch keine Dauerlösung,“ sage ich zu KR, meiner Therapeutin. „Was war denn so gruselig?“ – „Gestern war Raureif auf einer Wiese. Ein Kinder-Zustand war so fasziniert von dem Geräusch… diese Knisterwiese… es ist ganz eindeutig kein Erwachsenen-Erleben.“

KR schweigt und sagt dann: „Viele Erwachsene würden sich dieses kindliche Staunen zurückwünschen.“ – „Ich sehe eher das fremde Erleben, die Denkbehinderung und das Abhängigkeitsgefühl, das aus dem nicht-Können kommt.“

„Da kriegt jemand Körperzeit im Freien, die sonst keine hat. War dieses Ich dann zufrieden?“ fagt KR. Ich denke, ja. Ich würde gerne wissen, ob dieses Gefühl, ganz und gar nicht existieren zu dürfen, ihr ständiges auf der Lauer Liegen (gleich vertrieben zu werden) etwas ist, das von mir kommt, oder das aus der Therapie (wie sie früher war) entstanden ist? Als Missverständnis von Notfallskills? Denn solche kurzen Momente der Freude gibt es erst, seit das ein inneres Versprechen ist: „Beruhigen unbedingt! Wegskillen nicht mehr.“

Skills sind eine sinnvolle Sache! Ich mag Skills, aber ich verweigere inzwischen wegskillen. Was ist der Unterschied? Wegskillen ist…

  • Die Maßnahme muss einen Wechsel erzwingen oder versuchen, ihn zu erzwingen, von einem PSTT zu einem PADL (wenn man diese Einteilung mag 148),
  • WÄHREND jemand im System in Not ist.
  • Der Wechsel ist nur von kurzer Dauer und später (z.B. wenn die Helfer weg sind) wird wieder die Scheibe aktiv, die vorhin das Problem hatte.
  • Die Scheibe mit dem Problem ist dann in noch größerer Not als vor der Maßnahme (oder zumindest gleich großer Not).

Kurz: Wegskillen verbraucht nur Zeit (durch Wechsel) und vergrößert potenziell das Problem der jeweiligen Scheibe. Beruhigen im Gegensatz dazu, lässt die Scheibe bleiben und verringert das Problem der jeweiligen Scheibe. Wenn diese vier Kriterien nicht erfüllt sind, ist es kein wegskillen, sondern das sinnvolle Anwenden von Skills. Viele Skills sind sinnvoll als Überbrückungsmaßnahme, und das muss auch klar sein: Skills lösen keine Probleme, sie überbrücken sie oder kompensieren. Etwas, das ein Problem nachhaltig löst, ist eine Heilungserfahrung und kein Skill. Skills sind keine Lösung.

„Skills ist auch echt eine blöde Bezeichnung. ‚Fähigkeiten‘ – was soll das heißen?“ sagt KR. Welchen alternativen Namen würde ich Skills geben, wenn ich es global umbenennen dürfte? Vor allem unter dem Gesichtspunkt, wie ich unter falschen Erwartungen dazu im Jahr 200x gelitten habe (007)? Und eingedenk jemandes, den ich persönlich kenne, der aus diesen falschen Erwartungen zwei Selbstmordversuche innerhalb weniger Monate hatte?

Skills = Methoden (oder Tricks) zur Kompensation, Selbstberuhigung, zeitweiligen Überbrückung und gesunden Vermeidung.

Mein eigenes Fortsetzen von Gewalt auf Ratschlag hätte nicht sein müssen. „Hätte ich es damals besser gewusst, hätte ich es besser gemacht. Es ist genauso anstrengend, sich gegen einen Täter zu stellen wie gegen einen Helfer.“ KR antwortet: „Es ist viel schwieriger. Die Verwirrung ist viel größer, wenn man sich gegen einen Helfer stellt. Weil der Helfer…“ – „… sich abgelehnt fühlt. Die nehmen viel so persönlich. Jeder, der an Wissenschaft glaubt, nimmt solche Dinge nicht persönlich. Der stellt fest: Aha, nun haben wir mit einer Maßnahme dieses Ergebnis generiert. Und keine unkonstruktive Selbstwahrnehmung: ‚Ich bin als Therapeutin unfähig,‘ oder abwertende Fremdwahrnehmung: ‚Hier haben wir einen sturen/blöden/persönlichkeitsgestörten/therapieresistenten Patienten.‘ Es macht’s auch echt schwierig, in Folge-Helfersituationen zu gehen und sich nicht bei jedem Anlass zu denken: Vielleicht bist du der Nächste, der keine Ahnung hat und ich bin dir ausgeliefert!“

Mein neuer Umgang untereinander macht mich weniger anfällig für schlechte Ratschläge,“ sage ich zu KR. Ich bereue zutiefst, wie oft ich „sie“ nach Helferanweisung Notfall-Skills = Hardcore-Reizen ausgesetzt habe, um sie wegzuskillen. „Sie kann eine Stunde lang einer Knisterwiese zuhören, während sie in Zeitlupe einen Fuß vor den anderen setzt. Sie hat sich letztens hier bei Ihnen lange damit beschäftigt, dem Geräusch „ihres“ Fingers am Stoffdelfin zu lauschen. Jetzt, wo ich weiß, wie „sie“ tickt, ist das… unmenschlich fast.“ – „Weil sie sich einfach nur schreckt.“ – „Diese Notfallskills sollen aus der Notlage heraus-erschrecken. Das hat man mir ja immer dazu gereicht.“ „Das muss man halt erlebt haben,“ stellt KR fest: „Was bei DIS wegskillen ist und nur verwirrt, kann ein sinnvolles Skill bei Einsmenschen sein.“ Ja. Solange sich niemand hinsetzt und ein Fachbuch dazu schreibt, muss es leider jeder Therapeut für sich erleben. Und wer es erlebt hat, glaubt es oft nicht / erkennt es nicht / will es nicht sehen – das kommt noch dazu. Auch dagegen würde ein Fachartikel helfen.


Wegskillen = nicht hilfreich. Kennst Du das? Oder helfen Dir diese Notfallsskills, wie im Lehrbuch beschrieben?

Bildnachweis: pixabay / ernie

9 Kommentare Gib deinen ab

  1. Anmatis sagt:

    Danke! Danke! Danke!
    Ich habe sehr lange DBT gemacht(hatte ja schließlich Borderline) und einige Sachen finde ich wirklich hilfreich, ich mag wirklich einige“skills“ … aber ich fragte mich immer warum helfen denn einige so gar nicht und machen es einfach nur schlimmer…oder warum begreife ich es einfach nicht… und jedes mal wurde mir gesagt,na dann müssen sie mehr üben und das tat ich(lag ja an mir)
    Aber es änderte nicht viel. Jetzt wo ich weiß, das es im innen ankam als wiedererleben(geh weg,ich will dich nicht) versteh ich es besser. Und finde es gerade sehr gut das du es ansprichst

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    1. Ich bin sicher, im Skillstraining ist für jeden etwas Brauchbares dabei! Schließlich ist es sehr umfrangreich. Es stimmt auch, dass man einige Dinge echt üben muss, aber geißeln sollte man sich damit nicht (siehe 009). Alles Liebe s.

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  2. Schlendrian sagt:

    Das Problem bei Skills ist, dass sie kurzfristig helfen, sobald man aufhört, ist aber der Zustand zurück. Ich skille deshalb nur wenig und nehme zur Not Bedarf. Bin mit der Lösung aber auch nur eingeschränkt zufrieden

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  3. Alice sagt:

    Hallo. Da ich borderline habe und anteile. Oder Amnesien im Alltag . Fühle ich mich gerade angesprochen. Ich weiß noch nicht was es mit mir auf sich hat. Ujd waurm da mal ein wir ich und was auch immer ist. Es kommt stark drauf an was los ist bei mir. Wenn ich kontakt mit Anteilen habe. Ist der notfallkoffer eher Mist. Da tut nur weh. Weiche skills und haltungsskills helfen da mehr. DBt sit ja mehr als nur notfallkoffer. Naja. Bin ich angespannt. Hilft der notfallkoffer. Ist es wer in mir dann eher nicht. Ebenso hei Flashbacks. Zeigt mit ein Anteil was kann ich kein notfallkoffer machen. Erlebe ich. Also eine große wieder, dann schon. Doch es stimmt. Wegskillen ist hart. Er fühlt sich hart an. Darum nutze ich mehr die weichen skills und Achtsamkeit. Alles Liebe Alice

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  4. Ich brauche bis auf wenige Ausnahmen keine Körper-Skills. Die kognitiven Skills finde ich wahnsinnig hilfreich, die sind auch zu einem nicht unerheblichen Teil schon in die Denkweise übergegangen. Jeder der da in mir mithören, -lesen oder -lernen konnte (vor allem wollte!!) hat davon profitiert.

    Bei den Körper-Skills ist es so, wenn z.B. ein bestimmter autoaggressiver Anteil kommt habe ich nur ein winziges Zeitfenster, manchmal nur 2 Sekunden.
    Da ich schon immer Co-Bewusstsein hatte (nicht alle wissen voneinander aber die meisten, Kontakt/Kommunikation ist allerdings nur vereinzelt möglich) bin ich sehr oft hinter der Milchglasscheibe mit dabei und kann Wechsel manchmal kommen sehen. Ich versuche dann sofort aufzuspringen und in die Stresshocke an der Wand zu gehen bevor die Attacke auf mein Gesicht ihre volle Wucht entfalten kann. Das funktioniert meistens und muss meiner Meinung nach einfach konsequent weggeskilled werden, zumindest versucht werden.
    Langfristig würde ich mir natürlich wünschen auch diesen Teil erreichen zu können, aber ohne Therapeutin bzw. auf eigene Faust ist es eben bisher nicht möglich.

    Ich skille auch die kleinen weg- FALLS MÖGLICH/NÖTIG, wenn es zu der Alltagssituation absolut nicht passt. Ich möchte mich nicht ständig mit Kinderkleidung/Spielzeug etc. im Wert von *viel zuviel Geld* an einer Kasse wiederfinden, und dann einen anderen Anteil das auch noch bezahlen sehen, während ich hinter meiner Milchglasscheibe die Krise kriege und doch mal wieder nicht eingreifen kann. Ich finde es dysfunktional dass mir dann das Geld für den ganzen Monat fehlt.
    Und so sehe ich es auch in anderen Situationen.
    Dafür kaufe ich dann hinterher zB. einen Helium-Luftballon oder so, über den freuen sich die Kleinen auch sehr.

    Ich möchte natürlich jedem Raum geben, aber wenn es uns dann Sorgen macht oder anderweitig schadet, dann versuche ich schon denjenigen erstmal wegzuskillen, in der Hoffnung trotzdem noch einen Ausgleich, Trost oder ähnliches anbieten zu können. Ist halt nicht einfach das großteils nonverbal zu tun.
    Wenns nicht klappt muss ich eben damit leben dass sich, wie du so treffend beschreibst, der Druck oder das Problem im Hintergrund noch weiter aufbaut.
    Egal wie ich mich entscheide kann/wird es schwierig sein/bleiben.

    LG

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    1. Hallo Jane, das hört sich doch alles sehr hilfreich und sinnvoll an, was Du da erzählst… Ganz lieben Gruß schickt s

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  5. diesturmreiter sagt:

    Ich kenne mich mit Skills so gar nicht aus…
    Bei der einen Therapeutin war es irgendwie reine Gesprächstherapie, und die andere hat am liebsten mit dem sicheren Ort gearbeitet und wollte gerne, dass das verletzte innere Kind dort hingebracht wird.
    Hat aber nicht geklappt.😊
    Damals wusste ich allerdings noch nichts von einem Wir…
    Heutzutage liege ich morgens ganz oft mit Bauch- und Magenschmerzen da – Angst vor allem und jedem – und ich habs dann mal mit atmen versucht.
    Ich hatte mal irgendwo gelesen, dass ruhiges, langsames atmen dem Körper suggeriert, dass alles in Ordnung ist, weil man nur ruhig atmen würde, wenn halt alles in Ordnung ist…
    Funktioniert nicht sooo gut.
    Natürlich müsste ich vielleicht mehr üben, damit es ein Automatismus wird. Vielleicht…
    Aber dann habe ich eine Abkürzung entdeckt 😀
    Die Zeit, die es für das atmen üben braucht, hab ich dazu genutzt, ganz einfach zu fragen, was denn so dolle Angst macht.
    Und da ich im Allgemeinen einen guten Kontakt nach innen habe, bekomme ich auch so gut wie immer eine Antwort.
    Und danach ist Ruhe. Wunderbare, himmlische Ruhe (wenn sie auch nicht unbedingt von Dauer ist)
    Ich glaube das liegt daran, dass sich derjenige gesehen fühlt und akzeptiert, mit dem, was ist. Das ist so viel hilfreicher als: Atme mal und tu so, als wäre alles in Ordnung.
    Und es ist ja oft genug im Alltag so, dass man keine Zeit dafür hat, weil funktionieren angesagt ist.
    Wenn man sich aber Zeit dafür nimmt, wenn man grad welche hat, dann baut sich mit der Zeit Vertrauen auf, dass man irgendwann gehört werden wird – wenn auch nicht sofort.
    So siehts bei uns grad aus…

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    1. Hallo Sturmreiter, danke fürs erzählen! Ich finde auch, dass man Dinge probieren muss, um zu sehen, ob sie für einen passen. Ich tue Dinge aber nicht mehr länger als eine Wcohe, wenn ich nicht zumindest eine leise Tendenz in die gewünschte Richtung wahrnehme.
      Wie schön, dass Du das für Dich entdeckt hast. Danke fürs Teilen! Alles Liebe s.

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  6. emilia2012 sagt:

    Was mir hilft, – und ich habe erst vor Kurzen in Puzzlearbeit herausgefunden, dass es eine körperliche, für alle Menschen geltende Begründung dafür gibt, DASS es hilft ist: kaltes Wasser zackig trinken. Das hilft mir, um aus einem Zustand raus zu kommen, an dem ich wieder so gehört werde, dass ich fragen kann “ wer, was, wie“.

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